Im äußersten Nordosten schlängelt sich mit der Schlei der längste und schmalste Meeresarm der Ostsee 42 km weit ins Land und erschließt eine Region, in der Wikinger und Wildpferde daheim sind, der Fernseh-Landarzt wirkte, Deutschlands kleinste Stadt Romantik versprüht und ein Mega-Museum zur Nostalgie-Fahrt im Globus lädt.
Die Kulisse ist vertraut: eine sanft geschwungene Landschaft, Hügel an Hügel, unterbrochen von Knicks, kleinen Wallhecken, mit denen die Bauern ihren Besitz markierten und verhinderten, dass der Wind den wertvollen Boden fort trug.
Auf Wiesen weiden Schwarzbunte oder das rote Angler Rind, Häuser mit rotem Klinker und Reetdach ducken sich unter dem dichten Blätterdach von Kastanien und Linden. Willkommen am Set des Landarztes. 26 Jahre lang, von 1987 – 2013, begeisterte die Vorabendserie im ZDF Millionen von Zuschauer und machte Kappeln und sein Umland als Deekelsen bundesweit berühmt.
Der alte Fischerort erlebte einen Besucherboom, Landarztfans pilgerten in Scharen zu den Drehorten, knipsten die spätbarocke Kirche St. Nikolai, marschierten in der Fußgängerzone zu Asmussens Kneipe im Hotel Aurora und vorbei an schmucken Häusern, deren Baustil und Farbe das dänische Erbe bezeugen. Ihren Namen erhielt die abgeschiedene Region jedoch von einem anderen Volk: den Angeln.
Warum sie damals, im Jahr 450 n. Chr., alles stehen und liegen gelassen haben, ist bis heute so rätselhaft wie die vielen Legenden, die den Aufbruch zu erklären versuchen. Erst zu Fuß, dann mit geklinkerten Booten, hatten sie sich gen Westen aufgemacht, bis sie eine Insel erreichten, die seitdem ihren Namen trägt: England, Land der Angeln.
774 ernannte sich ihr legendärer König Offa dort zum ersten englischen Monarchen. Bereits 550 war die historische Region Angeln zwischen Förde und Schlei fast menschenleer. Erst Jahrzehnte später siedelten sich Dänen und Jüten auf der Halbinsel an, errichteten Höfe (im Dänischen „gaard“), gründeten Dörfer (dänisch -by) und Siedlungen (-rup) – noch immer verraten die Angliter Ortsnamen diese Wurzeln.
Am inneren Ende des Ostseearmes Schlei legten friesische Kaufleute im 8. Jahrhundert eine Siedlung an, die kurz darauf der dänische König höchstpersönlich übernahm und zu einem der wichtigsten Handelsplätze der Wikinger ausbaute: Haithabu.
Zur Blütezeit im 10. Jahrhundert lebten mehr als 1.000 Menschen in der Stadt am Kreuzweg der wichtigsten Fernhandelsrouten, die ein halbkreisförmiger Wall nach außen schützte. Als Bollwerk aus 30 Erdwällen setzte das Danewerk die Verteidigungslinie nach Westen fort.
Mit 24 Hektar genauso groß wie das damalige Köln, kamen selbst Kaufleute aus Arabien nach Haithabu, um zu handeln. Unter ihnen war 965 auch der arabische Chronist Ibrahim ibn Ahmed At-Tartûschi, der in seinem Reisebericht festhielt: „Haithabu ist eine sehr große Stadt am äußersten Ende des Weltmeeres“.
Durch die Schlei war Haithabu mit der Ostsee verbunden, durch Treene, Eider und nur 18 km Landweg mit der Nordsee. Fast 300 Jahre lang sorgte der Warenumschlag zwischen Ost- und Nordsee in Haithabu für Wohlstand.
Doch genau in dem Jahr, als ein anderer Nordmanne – Wilhelm – 1066 England eroberte, endete die Geschichte von Haithabu mit einer Katastrophe.Die Slawen, die schon öfters angegriffen hatten, brannten den Handelsplatz der Wikinger völlig nieder. Haithabu wurde aufgegeben – und nur drei Kilometer entfernt begann damit die große Zeit von Schleswig.
Die dortige Burg, im 12. Jahrhundert von Bischöfen auf einer Insel in der Schlei errichtet, wurde vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert Hauptsitz der Herzöge von Schleswig und Schleswig-Holstein-Gottorf. Sie machten Schleswig zur Kulturkapitale Nordeuropas. Ihre Residenz, Schloss Gottorf, bildet heute den größten Museumskomplex des Bundeslands.
Zu seinen Schätzen gehört ein großes Eichenboot, das der Lehrer und Archäologe Conrad Engelhardt 1863 rund 25 Kilometer nördlich von Flensburg im Nydam-Moor entdeckt hatte: ein Ruderschiff der Germanen, so gut erhalten wie keines zuvor. Er ließ es bergen und konservieren.
Doch dann brach der Deutsch-Dänische Krieg aus und damit das Gerangel um das Nydamboot. Seit 1947 ist es im Archäologischen Landesmuseum auf der Schlossinsel ausgestellt – und der Streit um das Schiff längst Vergangenheit. Heute forschen Deutsche und Dänen gemeinsam auf den Spuren des Schiffes und seiner Zeit.
Erst vor wenigen Jahren restauriert wurde ein zweites Sammlungshighlight: ein Globus zum Betreten. Das Unikum hatte Herzog Friedrich III. von Schleswig-Holstein-Gottorf (1587 – 1659) bei seinem Hofmathematiker Adam Olearius (1599 – 1671) in Auftrag gegeben. 1664 wurde der Gottorfer Globus im Lusthaus unterhalb der Schlossgartenterrassen aufgestellt.
Von außen zeigte er die damals bekannte Welt auf einer detailreichen Karte. Öffnete der wissenschaftsliebende Herzog jedoch die Tür, konnte er über eine kleine Treppe das Innere betreten und den Sternenhimmel betrachten. Was für eine Kugel! dachte sich auch Zar Peter I. von Russland und entführte das Meisterwerk nach St. Petersburg, von wo es nie wieder zurückgekehrt ist. Das Gottorfer Globushaus erhielt daher im Jahr 2005 einen originalgetreuen Nachbau.
Wildpferde und Wale
Verlandete Schilfsümpfe, Seegras und Salzwiesen, Dünen, ein Deich und Wasser, so weit das Auge reicht: Das 773 Hektar große Naturschutzgebiet Geltinger Birk bewahrt eine Ostseelandschaft, wie sie vor Jahrhunderten typisch für die Ostseeküste im Norden Schleswig-Holsteins war.
Am besten entdecken lässt sich die abgeschiedene Landschaft auf einer markierten, 25 km langen Radroute, die von Gelting aus als kinderleichte Runde durch das Schutzgebiet führt. Sein Wahrzeichen ist die Holländermühle „Charlotte“, die ab 1824 das Beveroer Noor entwässerte und heute Startpunkt ist für eine Wanderung zum Falshöft-Leuchtturm.
Besonders reizvoll ist auch der kleine Weg zur Halbinsel Quisnis, der am Parkplatz bei Grahlenstein beginn. Unterwegs lassen sich zottelige Hochlandrinder und Koniks, Wildpferde, beobachten. Hautnahe Einblicke in das faszinierende Leben der kleinsten Wale der Welt gewährt seit 2013 eine Webcam.
Sie wurde am Leuchtturm Kalkgrund installiert. Dort tummeln sich die Schweinswale besonders gerne. Die Bilder der Kamera werden an die Integrierte Station Falshöft gesendet. Ein Unterwassermikrofon fängt die typischen Klick-Laute der Wale auf und steuert die Kamera damit ferngesteuert in die Richtung der Tiere.
Blaublütige Bauern
Auch auf der Halbinsel Schwansen zwischen Schleswig und Eckernförde befanden sich die Herzöge von Schleswig-Holstein in bester Gesellschaft. Dutzende Adelige betrieben dort im großen Stil Landwirtschaft und schmückten ihre Güter mit herrlichen Herren- und Torhäusern.
1.200 Hektar, sprich zwölf Millionen Quadratmeter, beackert Prinz Christoph zu Schleswig-Holstein heute auf Gut Grünholz. 4.000 Hektar gehörten einst zum Gut Ludwigsburg, das mit der „Bunten Kammer“ ein Kleinod der Kunst birgt: 145 Miniaturgemälde auf einer Vertäfelung aus Eichenholz, jedes Motiv mit eigenem Motto.
Omnia vincit amor, die Liebe siegt über alles, steht auf einem – wie passend für den schmucken Mini-Saal, der heute als Trauzimmer dient. Während die adeligen Gutsherren einen geradezu höfischen Lebensstil genossen und Literaten wie Herder als Gäste ins Haus holten, war das Leben für die Landbevölkerung als Leibeigene hart.
Schon mit sechs Jahren begann ihr Arbeitseinsatz auf dem Gut – erst als Gänsejunge oder -liesel auf dem Hof, dann als Schafjunge. Mit zwölf Jahren ein „Kleinjunge“, schufteten Kinder für einen Jahreslohn von vier Mark auf dem Feld.
Als Großjunge mit 15 Jahren stieg der Lohn auf acht Mark, als Großknecht mit 25 Jahren auf bis zu 40 Mark. Für Mädchen und Mägde gab’s höchstens zwölf Mark. Alt wurde bei diesem Leben kaum jemand.
Heute hat ein Hightech-Maschinenpark die menschliche Arbeitskraft auf den Gütern in vielen Bereichen fast völlig ersetzt. Wo einst mehr als 100 Menschen lebten und arbeiten, wohnt heute nur eine Familie. Nutzlos geworden sind dadurch auch viele Gebäude der Güter. Doch: Abreißen verbietet der Denkmalschutz.
So setzen heute viele Güter nicht nur auf die Landwirtschaft, sondern auf Diversifikation. Davon profitiert der Tourismus: Hofläden und Hoffeste haben Hochkonjunktur, Hochzeiten im herrschaftlichen Ambiente sind en vogue, Weihnachtsmärkte und Musikfeste vor historischer Kulisse besonders beliebt.
Ausgedient haben auch die Leuchtturmwärter entlang der Küste. „Klar zum Löschen – Leitfeuer Eckernförde. Leitfeuer Eckernförde löschen”, hieß es am 30. September 1986 aus der Revierzentrale Travemünde auch für Ferdinand Denzien. Der letzte Leuchtturmwärter im damaligen Westdeutschland nahm seinen Hut.
Ein Berufsstand wurde Vergangenheit. Nur wenige Meter vom 1907 errichten Leuchtfeuer am Klintbarg hat seine Arbeit ein vollautomatisches, aus Travemünde ferngesteuertes Leuchtfeuer übernommen. Denzins alte Arbeitsstätte wandelte sich zum Urlaubsdomizil für Mitglieder des Sozialwerkes des Bundesverkehrsministeriums.
Neugierig, mehr an der Ostsee Schleswig-Holsteins zu entdecken? Dann lest weiter im…
DuMont-Bildatlas Ostseeküste Schleswig-Hostein
Deutschland hat viele reizvolle Landschaften. Eine besonders schöne versteckt sich im hohen Norden. Wer Sonne und Meerluft genießen möchte, wer Gefallen findet an endlosen Stränden und hübschen Promenaden, und wem auch gelegentlich schlechtes Wetter nichts ausmacht, der hier an der Ostsee genau richtig aufgehoben.
An Regentagen kommt keine Langeweile auf, denn auch die Städte haben viel zu bieten: interessante Museen, schöne Lokale, Flair und historische Bauten – allein in Lübeck stehen mehr als 3000 Bürgerhäuser. Die Altstadt ist Weltkulturerbe.
Die Bilder der Fotografin Sabine Lubenow zeigen faszinierende Panoramen und ungewöhnliche Nahaufnahmen. Ich gebe in sechs Kapitel, gegliedert nach regionalen Gesichtspunkten, einen Überblick über die maritime Region. Zu jedem Kapitel gehören Hintergrundreportagen, Aktivtipps und Specials, die aktuelle und interessante Themen aufgreifen. Wer mag, kann mein Werk hier* online bestellen.
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