Baltische Kontraste: Riga, Tallinn und Vilnius

Die Hauptstädte des Baltikums werden gerne mit strahlenden Sternen verglichen. Zu recht, doch funkelt jede Metropole im anderen Licht. Großbürgerlich und weit ist das Flair von Riga. Nordisch und überschaubar präsentiert sich Tallinn, während Vilnius seine barocke Pracht erst auf den zweiten Blick offenbart. Baltische Kontraste: das Trio!

Riga

“Riga dimd – Riga klingt”: Die alte Volksweise, die vom Glockenspiel der St. Petri-Kirche viermal am Tage über der Altstadt erklingt, tönt heute lauter denn je: Die größte Metropole des Baltikums hat ihren sozialistischen Dornröschenschlaf längst abgelegt und sich zur pulsierenden Drehscheibe zwischen Ost und West entwickelt. Ihre Wurzeln weisen nach Westen, Richtung Deutschland. Ein Bremer Bischof Albert gründete 1201 die Stadt an der Daugava – heute hilft Bremen als Partnerstadt beim Weg vom Plan zum Markt.

Im einstigen “Deutschen Viertel”, dem Gebiet zwischen Hanzas iela und Eisenbahn, Elisabethes und Tallinna iela, sind noch komplette Straßenzüge im Jugendstil erhalten. Der deutsche Architekt Edmund von Trompowsky hatte hier 1896 den Boom des “Neuen Stils” begründet. Doch die Stadt trägt viele Gesichter: In Vec Riga, der mittelalterlichen Altstadt mit ihren verwinkelten Gassen, stehen 79 Gebäude unter Denkmalschutz: Kontore, Patrizierhäuser, Stadtkirchen; Stadtmauer, Schloss und Palais.

Riga lebt von solchen Kontrasten. Komprimiert auf wenige Quadratkilometer im Herzen der Stadt, reduzieren sie die sozialistischen Narben auf ein Minimalmaß. Auch bei der Bevölkerung: Knapp eine Million Menschen – zu 55 Prozent Russen, zu 40 Prozent Letten, zu fünf Prozent Minderheiten aus der Ukraine und Weißrussland –- übt sich in täglicher Toleranz. Desolate Straßen, überfüllte Busse, Drängeln und Warten – was macht das schon, wenn die Sterne der Freiheitsstatue “Latvija” golden im Sonnenlicht funkeln, die ganze Stadt in stiller Selbstverständlichkeit die neue Zeit lebt?

Genuss ist angesagt: bei den Einheimischen wie bei den Besuchern. Insider treffen sich beim Intendanten der Nationaloper Riga zum Schmaus: In seinem Zagara restorans, versteckt in der Einkaufsarkade Berga Bazar, lädt Andrejs Zagars zu mediterranem Schlemmen bei passendem Ambiente.

Paco Rabanne, Pierre Cardin und Mstistlav Rostro-povitsch dinierten auf der Terrasse des stilvollen Restorants Vincents, das nicht nur mit den Gemälden an der Wand, sondern auch den Krawatten der Ober die Liebe zu van Gogh und dessen provenzaler Küche beweist.

Nahezu Kult-Status unter Geschäftsleuten besitzt das Jever Bistro (Kalku 6, 22 70 78).  Lettland war kaum unabhängig, da eröffnete ein Hamburger Kneipier gemeinsam mit der St. Pauli-Bavaria-Brauerei ein deutsche Lokal, dessen Ochsenzunge im gesamten Land rasch legendären Ruf erwarb. Bald folgten die Damen zum Dinner, dezent, aber präsent. Hagen Graf Lambsdorff ist Stammgast.

Die Hotellerie hat längst Anschluss an westliches Niveau in Preis und Qualität gefunden: Das Radisson Hotel-SAS direkt an der Daugava gilt mit seinen 365 Zimmer als edelste Herberge der Hansestadt. Wer absolute Ruhe schätzt, wird das Hotel Roma am Rande der Altstadt bevorzugen.

Im einstigen Intourist-Flaggschiff Hotel Latvija entsprechen einzig die Zimmer der VIP-Etagen vom 6. bis 14. Stock dem Fünf-Sterne-Standard. Die wiedergewonnene Lebensfreude äußert sich auch im Konsum: Schön, edel, abwechslungsreich soll das Shopping sein.

Beim Juwelier Egon Steinboks erwarb Hillary Clinton ihr Bernsteinhalsband – und der Papst seine Madonna. “Geistvolleres” findet der Geschäftsreisende bei Latvijas Balzams, der zentrale Verkaufsstelle der Rigaer Schnapsbrennerei mit 20 verschiedenen lettischen Wodkasorten und Likören. Degustation inklusive…

Tallinn: Tompea, Straßenkunst an der Stadtmauer
Straßenkunst an der Stadtmauer des Tompea

Tallinn

Ein Ring monotoner Plattenbausiedlungen, in denen zwangsumgesiedelte überwiegend Russen leben, umgibt die gründerzeitliche Neustadt; ein trutziger Mauerring verbirgt das mittelalterlich-hanseatische Zentrum: Tallinn, das alte Reval, verbirgt seinen Charme all den Reisenden, die über Land die Stadt erreichen. Auf dem Seeweg hingegen zeigt es sich von seiner schönsten Seite.

Wenn am Horizont die schlanken Kirchtürme, die mächtigen Festungstürme und die roten Ziegeldächer der alten Hansestadt auftauchen, wird verständlich, warum Tallinn mit Toompea (Domberg) und Vanalinn (Unterstadt) als wohl schönstes – und geschlossenstes – Ensemble einer mittelalterlichen Stadt gilt.

Und dabei durchaus modern ist: Die Nähe zu Finnland, binnen zwei Stunden per Schnellboot zu erreichen, hat Tallinn schneller als andere Städte im Baltikum in die westliche Welt katapultiert. West heißt hier skandinavisch – wie Öl-Multi Nestlé beherrschen vor allem schwedische und finnische Unternehmen die estnische Wirtschaft, so, wie einst in der schwedischen Zeit (1561 – 1710).

Tallinn: Viru-Straße, Bakaalkaubad
In der Viru tanäv

Ausgangspunkt für Entdeckungen ist der zentrale Platz viru väljak. Das gleichnamige Hotel Viru bildete in den letzten 25 Jahren das inoffizielle Zentrum der Stadt, in dessen Ladengalerie, Restaurants und Bars, Nachtclub Saunakomplex Ost und West sich nahezu ungestört treffen konnten.

Einzig das Hotel Olümpia kann das Viru in einem noch übertrumpfen: Seine Sauna mit auf dem Dach, erbaut mit Glaswänden, erlaubt einen einmaligen Rundblick über die Altstadt. Unvergleichlich ist der Blick auch von der kleinen Aussichtsplattform “Kohtu”.

Hier, vom Plateau des Domberges aus, lässt sich die Struktur der Stadt besonders gut erkennen: hier der Domberg, Zentrum der geistigen und weltlichen Macht, da die Unterstadt der Bürger, Handwerker und Kaufleute. Die einzige Verbindung – die steile Kopfsteingasse Pikk Jalg – wurde jahrhundertelang um 21 Uhr unterbrochen. Das Untertor schloss seine Pforte bis zum nächsten Morgen. Oder manchmal für länger.

Estland/Tallinn: Rathausplatz mit Ratsapotheke
Rathausplatz mit Ratsapotheke

In der Unterstadt Tallinns brummt das Leben hingegen die ganze Nacht. Tagsüber treffen sich Geschäftsleute gerne im Maiasmokk, dem ehemaligen Café Stude. Estlands erster Schokoladen- und Marzipan-Produzent serviert heute herrliche Konditoreien und Kaffees. Unbedingt zu reservieren sind die Plätze im Restaurant Vanaema Juures, einem Kleinod estnischer Küche.

Gleich neben dem Palace Hotel lädt das Kabaret-Restaurant “Astoria” zum Diner im Stil der Roaring Twenties – Varieté inklusive. Estlands Prominenz trifft sich im Restoran Gloria“. Für Amusement bis spät ins den Abend sorgen die Nachtclubs der großen Hotels. Im Sommer hingegen wird das Feiern ins Freie verlegt. Jeder Monat wird genutzt: Auf das Altstadtfest (Juni) folgt das Sängerfest “Baltica” (Juli), danach das Internationale Orgelmusikfest (August), das Blumenfest (September) und das Jazz- und Bluesfestival (Oktober).

Vilnius

Im Unterschied zu Riga und Tallinn wirkt Vilnius seltsam alltäglich, geradezu ernüchternd: Moderne sozialistische Zweckbauten säumen die Ufer der Neris, nirgendwo ein Stück Idylle. Bis sich der Geschäftsreisende auf Abwege leiten lässt, sich vom Zentrum entfernt – und von barocker Prachtentfaltung umgeben ist. Denn die Hauptstadt Litauens, 1323 durch Großfürsten Gediminas gegründet, besitzt Baudenkmäler, die zu den bedeutendsten in Osteuropa zählen.

1994 wurde die gesamte Altstadt von der UNESCO unter Schutz gestellt. Höhepunkt jeder Stadtführung ist der “Gotische Winkel”. Drei Kirchen, St. Anna, St. Bernhard und St. Michail, stehen hier auf engstem Raum beieinander,  jede für sich ein Prachtbeispiel gotischer Architektur in Litauen. Auf dem nahen Burgberg flattert eine Fahne in den litauischen Landesfarben grün, rot und weiß – und greift damit die Farben der Stadt auf: grüne Wälder und Parks, rote Ziegeldächer, weiß getünchte Fassaden.

Wer den Burgberg zum Kathedralplatz hinabsteigt, hat das Herz von Vilnius erreicht. Hier kreuzen sich die Lebensadern der Stadt, erlaubt eine sieben Meter dicke Kulturschicht Archäologen Einblicke bis zur vorchristlicher Zeit. Wer die heutige Kulturszene kennenlernen will, steht vor der Qual der Wahl: Geht es in die Philharmonie (Didzioji 45), Oper (Vienuolio 12) oder in den Kultur- und Sportpalast (Rinktines 1)?

Oder doch lieber ins Maldis? Ungewöhnlich wie die Lage ist auch das Ambiente des derzeit angesagtesten Gourmettempels: Art Nouveau mitten in einem ultramodernen Hochhausblock. Die Küche gibt sich nicht minder exotisch – aber genauso delikat. Ganz auf Geschäftskunden eingestellt hat sich das Traidenis. Für romantische Stunden empfiehlt sich das Kellerlokal Senasis rusys.

Während sich die Gastronomie bereits ganz auf Geschäftskunden eingestellt hat, fehlen in der Hotellerie immer noch überzeugende Angebote. An guten Flugverbindungen ex Vilnius kann es nicht liegen – die meisten europäischen Destinationen werden meist vormittags angeflogen. Business traveller wählen daher gern Herbergen, die im Joint-venture mit westlichen Unternehmen betrieben werden. Beim Radisson SAS Astorija sorgen Norweger für soliden Vier-Sterne-Standard.

Das kleine Marbre in einem ehemaligen Zisterzienserkloster ist ein deutsch-litauisches Gemeinschaftsunternehmen; am “Villon”, gelegen an der Schnellstraße nach Riga, sind Briten beteiligt. Und wer auf den Spuren Caroline von Monaco wandeln möchte, sollte das Stikliai aufsuchen – neben luxuriösen Zimmern und einem “freundlichen Empfang” gibt es dort, so die monegassische Prinzessin weiter, “ein wunderbares Abendessen”. Und was wäre wohl ein besserer Abschluss eines anstrengenden Tages?

Dieser Beitrag ist am 6./7. März 1998 im Handelsblatt erschienen.

Vilnius: Parlamentsplatz, UdSSR-Medaillen; 1991
Vilnius: Parlamentsplatz 1991

Verwandte Artikel:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert