„Die heute Mittag 11 1/2 erfolgte glückliche Entbindung meiner lieben Frau von einem gesunden Knaben zeige ich Verwandten und Freunden hierdurch ergebenst an. Anclam, den 23. Mai 1848. G. Lilienthal.“
Stolz lässt Gustav Lilienthal die Geburt des ersten Sohnes auf Seite 268 im Pommerschen Volks- und Anzeige-Blatt bekannt geben. Die Mutter des stolzen Stammhalters, Caroline Pohle, war nach ihrer Gesangsausbildung in Dresden und Berlin in die pommersche Hafenstadt an der Peene gezogen, wo sie nach kurzer Zeit des Kennenlernens den Tuchhändler Gustav Lilienthal ehelichte.
Als Gustav mit 43 Jahren als Trinker und bankrotter Geschäftsmann an Lungenentzündung stirbt, bleibt Caroline mittellos zurück – mit mittlerweile drei Kindern: Otto, Gustav und Marie. Von den acht Kindern, die Frau Lilienthal in den 14 Ehejahren zur Welt brachte, wurde einzig Otto in der Peenestraße 8 geboren.
Heute erinnert hier eine Büste mit Gedenktafel an das Geburtshaus in Anklam, das Bomben im Zweiten Weltkrieg zerstörten. Der Umzug auf die andere Straßenseite in eine kleinere Wohnung am Fluss bedeutete für die Familie einen Abstieg.
Fünf seiner Geschwister starben noch als Kleinkinder – Feuchtigkeit und Unterernährung brachten sie um. Auch am Wohnhaus in der Peenestraße 35 weckt eine Gedenktafel Erinnerungen an den großen Sohn der Stadt.
Während die Mutter dort ihre Hutmacherarbeiten ausstellt und durch Heimarbeit einige Groschen verdient, ersetzt zunächst Onkel Wilhelm Lilienthal den Vater, dann der befreundete Reeder Karl Mehlhorn.
Die beiden Knaben besuchen mit mäßigem Erfolg das örtliche Gymnasium. Ihre Gedanken sind ganz woanders: Otto und Gustav lässt der Traum vom Fliegen nicht los. Schon kurz nach dem Tod des Vaters bauen sie sich ihre ersten Vogelschwingen.
Aus dünnen Buchenbrettchen leimen sie zwei Meter lange und einen Meter breite Flügel zusammen, schlüpfen mit ihren Armen durch die an der Unterseite angebrachten Riemchen und laufen so eines Nachts den Exerzierplatz der Garnison entlang.
Die ersten Flugversuche enden jämmerlich: Völlig außer Atem, stolpernd und fallend, kehren die beiden Schüler todmüde nach Hause zurück. Nach zwei Ehrenrunden auf dem Gymnasium verlässt Otto mit 16 Jahren die Schule und geht nach Potsdam.
Die Ausbildung im Maschinenbau an der dortigen Provinzial-Gewerbeschule liegt Otto – der „Faulenzer“ wird Primus. Beim Examen erreicht er das damals beste Prüfungsergebnis der Schule. Sein Bruder Gustav, der zunächst das Maurerhandwerk lernt, kommt kurz darauf ebenfalls nach Berlin.
Otto ist inzwischen Praktikant in der Maschinenfabrik Schwarzkopff. In jeder freien Minute setzen die beiden Brüder ihre Flugversuche fort, tüfteln und basteln an immer gewagteren und ausgefeilteren Flugmaschinen.
Ihr Schlagflügelapparat aus Weidenruten, Flachs, Garn, Tuch und Knochenleim wiegt schließlich 80 Kilo. Für ihre Experimente lassen sich die Brüder sogar eigens einen Berg aufschütten – kein Wunder, dass die beiden damals als Spinner verspottet und verlacht wurden. 1889 verfasst Otto Lilienthal seine Theorieschrift „Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst“.
Zwei Jahre später, 1891, gelingt Otto Lilienthal – nach vielen Fehlschlägen – der ersten Flug vom Windmühlenberg in Drewitz bei Berlin. Der Traum vom Fliegen war Wirklichkeit geworden. Die Vollendung der Vision bringt Lilienthal den Tod: 1896 wird der 48-Jährige mit gebrochener Wirbelsäule aus den Trümmern seines Flugapparates geborgen.
Doch schon sieben Jahre wird 1903 entsteht nach seinen Erkenntnissen das erste Motorflugzeug. Lilienthal, bereits 1910 vom Magistrat öffentlich geehrt, war in der DDR als Bürgerlicher ein eher ungeliebter Pionier. Erst Anfang der 1980er-Jahre wurde auf dem Markt das Lilienthal-Denkmal des Bildhauers Walter Preik aufgestellt.
Zum 100. Jahrestag des menschlichen Erstfluges, am 13. Juli 1991, erhielt der Flugpionier endlich seine würdige Gedenkstätte. Nach umfangreichen Aus- und Umbauten zeigt das Otto–Lilienthal-Museum in der Ellenbogenstraße 1a unter anderem sieben rekonstruierte Gleitflugzeuge im Maßstab 1:5 – die wertvollen Originale ruhen sicher im Fundus des Museums.
Dieser Beitrag ist 1991 in “1000 Ausflugsziele in Mecklenburg-Vorpommern” erschienen.