Als Vorgebirge aus weißen Felsen, blauem Meer, dichten Wäldern, Dünen und Sumpfgebieten durchbricht der Promontorio Garganico die schnurgerade, flache Adriaküste Apuliens und überrascht nach jeder Biegung mit einzigartigen Eindrücken.
Rosmarin, Thymian und Lavendel liegen in der Luft. Zikaden zirpen im Crescendo. Tiefgrüne Aleppo-Kiefern klammern sich mit ihren Wurzeln an Felsvorsprünge, ausgewaschene Täler und strahlend weiße Kreideklippen, die steil ins Meer abfallen. Mal milchig, mal glasklar, leuchten die Fluten der Adria in allen Facetten von Azurblau bis Smaragdgrün. A
ls Berg- und Talbahn mit waghalsigen Kehren und Kurven schwingt sich die Küstenstraße im Süden des Gargano zwischen Himmel und Meer von Bucht zu Bucht. Stichstraßen führen zu versteckten Kleinoden, nicht einzusehen von der Hauptroute. Den eher flachen Norden des Gargano mit zwei Binnenseen und niedrigen Dünen prägt ein mehr als 30 Kilometer langer Sandstrand, gesäumt von Campingplätzen, Bungalowsiedlungen, Bars und Trattorien.
Die touristische Entdeckung der Halbinsel verdankt der Gargano, noch vor 50 Jahren von der Außenwelt fast völlig isoliert, einem einzigen Mann: Enrico Mattei. „Ma questo è il paradiso“ (Dies ist das Paradies!) soll der Präsident der italienischen Ölfirma Eni bei seinem Besuch der Bucht von Pugnochiuso 1959 ausgerufen haben – und ließ dort prompt ein Hotel mit Konferenzzentrum errichten. „Das erste Hotel der Halbinsel glich einer Revolution“, sagt Antonella Vescia (43) vom regionalen Tourismusbüro.
Weiter westlich versteckt sich das Hotel der Baia delle Zagare, wo der Gast mit einem Lift zu den beiden Badebuchten mit Kieselstrand hinab saust – erst an der Baia di Campi beginnt die Sequenz pulverfeiner Sandstrände, die sich von dort an den Gargano umrunden und erst am Torre Fortore im Norden enden.
Immer wieder ragen wuchtige Kalksteinfelsen aus dem Meer. Der 26 Meter hohe Pizzomundo wurde zum Wahrzeichen von Vieste, mit langem Sandstrand, modernen Hotels, regelrechten Campingstädten, Bungalowsiedlungen, Kneipen, Discos und Restaurants touristisches Zentrum der Halbinsel.
Die weiß geputzten Häuser seines Centro Storico drängen sich rund um das Castello Friedrich II: auf einem Felsdorn hoch über dem Meer. Die Treppenwege sind eng, die Häuser verwinkelt, Balkone und Bögen ragen in die Gassen. Wäsche flattert im Wind, Geranien blühen auf Brüstungen, laut plärrt ein Fernseher.
Zwischen Vieste und Pèschici sind noch 36 Trabucchi erhalten, alte Holzgerüste auf steilen Felsen, mit denen in Küstennähe einst auf einen Schlag zentnerweise Fisch gefangen wurde. Mimì und Lucietta gehören zu den letzten sechs „Trabucchisti“, die noch nach Art der Vorväter fischen. Damit die Kasse stimmt, errichteten sie ihr Trabucco-Restaurant Da Mimì, in dem nicht nur fangfrischer Fisch, sondern von Mai bis September auch Jazz vom Feinsten serviert wird – mit Blick auf die Bucht von San Nicolà.
Zu den Besucherpflichten auf dem Gargano gehört eine Fahrt zu den Grotten und Höhlen, Naturbögen und Felslabyrinthen entlang der Küste. Vor der Grotta delle Ondine konkurrieren Ausflugsschiffe, Urlauber im Seekajaks, Kinder im Schlauchboot und Badende mit Tauchermaske und Schnorchel um Einlass in die Höhle, an deren Wänden tiefrote Weichtiere kleben.
Flora und Fauna der Grotten und Klippen, Sümpfe und Seen, Berge und Täler schützt seit 1995 der 125.000 Hektar große Gargano-Nationalpark. Sein Herzstück bildet die Foresta Umbra – „ein Wald des Südens mit Bäumen des Nordens“, so Nationalpark-Sprecher Saverio Serlenga. Buchen, Eichen und Ahorn wachsen im „dunklen Wald“, der auf 11.000 Hektar das nordöstliche Vorgebirge der sonst eher kargen, steinigen Halbinsel bedeckt.
Die 2.200 Pflanzenarten der Foresta Umbra bilden 35 Prozent der italienischen Flora. 60 Prozent der europäischen Orchideen gedeihen im Schatten der Baumriesen – kein Ort in Europa kann eine größere Anzahl aufweisen. Die letzten 100 Tiere des Garganischen Rehbocks werden in Gehegen vom Aussterben bewahrt.
Wildschweine und Wildkatzen jagen im Unterholz, Turmfalken, Mäusebussarde, Sperber und nicht weniger als fünf Spechtarten schwingen sich durch die Lüfte. Wer nicht auf 14 markierten Wegen von einer bis acht Stunden auf eigene Faust den Märchenwald entdecken will, kann Ranger auf 24 Themen-Touren begleiten. Überall im Wald laden Picknickplätze zur Rast.
Ziel des Nationalparks ist es nicht nur, die Artenvielfalt zu erhalten, sondern auch die traditionellen Aktivitäten der rund 200.000 Menschen zu bewahren, die in den 19 Kommunen des Parks leben. Die Gäste auf dem Dach, fährt Peppino Fasanella (52) im Jeep vorsichtig über eine ausgewaschene Schotterstraße hinauf zur Masseria Sgarrazza.
Auf der Viehfarm von 1860 produzieren Antonio (62) und Pietro (36) de Vita den berühmtesten Käse des Gargano: Caciocavallo Podolica, über dem offenen Feuer aus der Milch der autochthonen Podolica-Rinder gerührt. Der Hartkäse in Tropfenform ist eines der fünf Produkte, die als öno-gastronomisches Erbe des Gargano geschützt und vom Slow-Food-Förderkreis bei der Vermarktung unterstützt werden.
Weitere Produkte sind das Rindfleisch der vom Aussterben bedrohten Podolica-Rinder, von der es nur noch 25.000 Tiere in Süditalien gibt, die Aale aus dem Lésina-See, die Saubohnen von Carpino sowie die Zitrusfrüchte von Rodi Garganico. Bereits seit dem Jahr 1000 werden in der Küstenebene zu Füßen der Kleinstadt, die sich an einen 90 Meter hohen Felsdorn klammert, Zitronen und Orangen angebaut – anfangs nur Bitterorangen, ab dem 17. Jahrhundert auch süße Varianten aus Portugal.
Im 19. Jahrhundert waren die endemischen Sorten „La Dureta“, „La Bionda“ und „Il Melangolo“ so gefragt, dass sie in luxuriöser Verpackung nach Amerika exportiert wurden – eine Tradition, die heute wieder belebt werden soll. Entlang der Landstraßen bieten immer wieder „Oleificii“ Öl aus eigenem Anbau an. Mit langen Stangen werden die Oliven von den Bäumen geschlagen, in Netzen gesammelt und sofort kalt in Öl-Steinmühlen gepresst.
Jeder Ort des Gargano hat eigene Traditionen. So lebt das Kunsthandwerk mit den Körben von Ischitella wieder auf, die aus Binsen des Lago Varano geflochten werden. In Pèschici drehen Töpfer ihre Scheiben, in Carpino sitzen alte und junge Frauen am Webstuhl. In den Höhlen des rauen Pulsano-Tales wohnten im sechsten Jahrhundert Einsiedlermönche, die sich ganz dem Gebet und der Meditation hingaben.
Die Abtei Santa Maria di Pulsano war eines der wichtigsten Benediktinerklöster, die auf dem Weg der Kreuzritter ins Heilige Land lagen. Eine Straße, Via Sacra Langobardorum genannt, führte die Pilger über das Vorgebirge von einem Heiligtum zum nächsten. In San Giovanni Rotundo lebte bis 1968 der wohl populärste italienische Mönch des 20. Jahrhunderts, Padre Pio.
Seine Heiligsprechung im Jahr 2002 verwandelte das Bergdorf in den größten Wallfahrtsort Europas: 120 neue Hotels entstanden binnen zwei Jahren für die acht Millionen Pilger, die seit Sommer 2004 im größten Sakralbau der Neuzeit beten – der Chiesa San Pio da Pietrelcina vom Stararchitekten Renzo Piano.
Die Heilige Straße endete am Monte Sant’Angelo. In einer Grotte neben der 800 Meter hohen Bergkuppe soll Ende des vierten Jahrhunderts der Erzengel Michael erschienen sein und erfolgreich mit dem Teufel gekämpft haben. 493 n. Chr. wurde die Basilica San Michele Arcangelo mit ihrem achteckigen Glockenturm über der Grotte errichtet und dem Gottesritter geweiht.
Auf einer breiten, ausgelatschten Marmortreppe strömen tagtäglich Tausende Gläubige zur heiligen Grotte hinab, entzünden eine Kerze, lauschen den Predigten der Franziskanermönche und murmeln monoton ihre Gebete. Vor dem Gotteshaus pulsiert im Junno-Viertel der Alltag von heute im Ambiente von einst.
Dieser Beitrag wurde vom gms-Themendienst der dpa am 26. August 2005 verbreitet und u.a. von Spiegel Online veröffentlicht.