Mecklenburg. Eine Landschaft, die süchtig macht nach mehr, die den Reisenden nicht mehr loslässt, sich fest in seinem Herzen einnistet. Ein Land der Gegensätze, mit der Müritz im Mittelpunkt. Eingebunden in die stille Welt noch vielfach unberührter Natur, bestimmt vom Quartett der vier W‘s – Wasser, Wiesen, Wald und Wolken.
Unter dem lichtblauen Himmel ducken sich verträumte Dörfer und kleine Städte, erzählen Herrenhäuser und Schlösser vom Glanz vergangener Zeiten. Wehrhafte alte Kirchen und Klöster aus verwittertem Backstein trutzten über die Jahrhunderte hinweg nicht nur Wind und Wetter, sondern auch den streitbaren Herzögen und sozialistischen Herren.
Ein besonderes Land, dieses kleine Herzogtum an der Ostsee, das sich empört über die Ignoranz der Rundfunksprecher und Besucher, die es als „Mäcklenburg” titulieren – ist es doch mit dem norddeutschen Dehnungs–ck versehen.
Das dieses „Meecklenburg” etwas Besonderes ist, war bereits im alten Diercke-Schulatlas nachzulesen: Mit gelber Farbe war da das Land hervorgehoben, das heute wieder stolz seine Landesflagge in Blau-Gelb-Rot hisst.
Besonders patriotisch gibt man sich in Schwerin, der Landeshauptstadt. Die schmucken Fassaden der Gründerzeitvillen sind längst renoviert, die Hinterhöfe aufgeräumt, Parks und Teiche wieder einladende Promenier- und Ruhezonen.
Schwerins Wahrzeichen jedoch ist das Schloss, idyllisch auf der Burginsel im Schweriner See gelegen. Dass die zahlreichen Architekten – Demmler, Semper, Stüler und Willebrand – über die Jahrhunderte eine unterschiedliche Auffassung zur Vollendung dieses Bauwerkes hatten, lässt sich nicht leugnen: Einträchtig gehen hier Renaissance, Barock und Historismus eine verwirrende Stilmelange ein.
Eine Führung durch die restaurierten Innenräume ist durchaus lohnend: Beletage und Festetage mit Thronsaal erstrahlen in neuem Glanz; das Schlosscafé wurde gleich mit in die Restaurierungsarbeit einbezogen.
Die Attraktionen liegen in Schwerin nah beisammen. Gegenüber der Schlossinsel liegt das Mecklenburgische Staatstheater, als progressive und professionelle Bühne weit über die Landesgrenze bekannt. Rechts daneben: das Museum mit einer sehenswerten Sammlung niederländischer Malerei des 18. Jahrhunderts.
Dahinter: die Altstadt mit ihren restaurierten Fachwerk- und Patrizierhäusern und dem Dom, der zu den schönsten Beispielen der Backsteingotik zählt. Vom Turm aus – 330 enge Stufen auf der Wendeltreppe – reicht der Blick weit über die sieben Seen auf Stadtgebiet. Der einzig richtige Abschied dauert zwei Stunden: eine Schiffstour auf dem Schweriner See.
Eng verbunden mit dem Namen Ernst Barlachs ist die ehemalige Residenzstadt Güstrow. Von 1910 bis 1938 wirkte der Bildhauer hier; sein Wohnhaus ist heute Museum. Im Güstrower Dom ist der „Schwebende Engel“, eine seiner bekanntesten Skulpturen, zu besichtigen. Die Plastik hat ihre ganz eigene Geschichte: Als „entartete Kunst“ wurde das 1926 geschaffene Original 1944 von den Nazis eingeschmolzen.
Glücklicherweise hatten Freunde des Künstlers ein zweites Exemplar zuvor in der Heide vergraben. Nach Kriegsende ausgebuddelt, hängt die Zweitfassung nun in der Kölner St. Antoniter-Kirche; die Güstrower erhielten 1952 einen Abguss als Geschenk.
Das stattliche Renaissanceschloss am Ortsrand bietet ein Unikum: Im Festsaal, heute für Jugendweihen genutzt, sind Jagdszenen mit Pferden, Kamelen und Elefanten in Pappmaché festgehalten.
Weitaus schauriger ging es dagegen im “Hexenkeller” in Penzlin zu. In besonders hergerichteten Wandnischen wurden hier um 1550 die als Hexen verrufenen Frauen so angekettet, das sie weder Arme noch Beine bewegen konnten. An die ausgefeilten Methoden mittelalterlicher Torturen erinnern die Folterinstrumente.
Beschwerlich, und doch ein Genuss ist das Reisen über Land auf den alten Chausseen mit ihrem ausgefahrenen, holprigen Kopfsteinpflaster. Die dicht bestandenen Linden- und Kastanienalleen jedoch besänftigen das Gemüt durch ihre Pracht und wecken Erinnerungen an Vergangenes.
Nie sollte man dieses Land, über das seit Bismarck gespöttelt wird, dass hier alles mit 100 Jahren Verspätung geschähe, anders er „fahren“ als in Muße und Ruhe. Und der eiserne Kanzler fügte hinzu: „Wenn morgen die Welt untergeht, würde ich hierher fliehen.“
Der Kanzler blieb in Preußen, die Intellektuellen kamen: In den 1970er Jahren wurde ein Dorf in Mecklenburg zum Flucht- und Besinnungsort der Schriftstellergruppe um Christa Wolf. Mecklenburg wurde auch zum Refugium für bedrohte Tier- und Pflanzenarten.
Die gesamte Müritzer Seenplatte ist Landschaftsschutzgebiet, große Teile wurden zum Naturschutzgebiet erklärt. Graureiher, Kormorane, Kraniche, Milane und Bussards nisten hier; noch zählen die örtlichen Vogelschützer 31 Seeadler. Die Pflanzenwelt mit Kuhschelle, Orchideen, Enzian und mehr als zwei Meter hohen Schachtelhalmen ist einmalig im gesamten nordostdeutschen Raum.
Touristisches Zentrum des mit 120 Quadratmetern großen Binnenmeeres ist Waren am Nordufer der Müritz. Motorbootfahrten durch das zauberhafte Seengebiet nehmen hier ihren Anfang, Hotels und Privatquartiere sind rund um das Jahr für den Besucheransturm gerüstet.
Eine ruhigere Alternative ist Plau am gleichnamigen, 38,7 Quadratmeter großen See. Noch als Geheimtipp gehandelt wird Feldberg, ein Kleinstadtidyll mit 750-jähriger Geschichte inmitten einer lieblichen Hügellandschaft. Rings herum auch hier: viel Wasser. Zum Beispiel: der Schmale Luzin, ein fjordartiger Rinnensee. Oder: der Große Luzin, mit 59 Metern der tiefste See Mecklenburgs.
Doch Mecklenburg hält für jeden seine Seelenheimat bereit. Meine habe ich in D. unweit von Schwerin gefunden. Eine von Kastanien und Linden gesäumte Allee führt dorthin; alte Katen mit windzerzausten Reetdächern haben die schnell hochgezogenen LPG-Bauten überdauert.
Die Kirche mit ihrem einfachen Bretterturm liegt noch mitten im Dorf, ein Eichenwald steht auf dem langgestreckten Anger: Nur das Rauschen seiner Kronen unterbricht die zeitlose Stille.
Dieser Beitrag ist in Heft 2/1990 des Seniorenmagazins “autark” erschienen.