Mit Father Christmas ins Outback

4.352 Kilometer lang rattert der Indian Pacific zwischen Sydney und Perth 65 Stunden lang durch faszinierende Landschaften. Mitten in der Hitze des australischen Sommer besteigt Anfang Dezember der Weihnachtsmann in voller Montur den Zug.

Abschiedskonzert am Gleis

Im mächtigen Sandsteinbau von 1906, mitten im Herzen der Fünfmillionenmetropole Sydney, wartet auf ihn an Gleis eins der Indian Pacific. Zweimal pro Woche schlängelt sich Australiens berühmtester Transkontinentalzug von Sydney nach Perth in 65 Stunden einmal quer durchs Land. „Schlängeln“ dürft ihr dabei nicht allzu wörtlich nehmen, denn nach den Blue Mountains zum Auftakt folgt hinter Adelaide die längste gerade Eisenbahnstrecke der Welt.

Father Christmas, wie die Australier ihren Weihnachtsmann nennen, macht diese Fahrt seit der Jahrtausendwende, und damit seit nunmehr 14 Jahren, stets Anfang Dezember. Immer mit an Bord ist eine Band. Zum Abschied in Sydney gibt sie eine kleine Kostprobe am Gleis, unterwegs Gastkonzerte.

Das erste gleich in Bathurst, kurz hinter der Great Dividing Range, jenen steilen Bergen, die bis zu 2000 Meter hoch den Küstensaum von Sydney von der Weite des Landesinnern trennt. Kreischend begrüßen Schulkinder in Uniform den 711 Meter langen Zug mit seinen 25 Waggons.

Ho, ho, ho! ruft Father Christmas

„Ho, ho, ho!“ grüßt Father Christmas. Die Band stellt Verstärker auf. „Santa Claus is Coming to Town…“ Der ganze Bahnstein singt und swingt, Father Christmas wischt ein paar Schweißtropfen von der Stirn, verteilt Schokolade und kleine Geschenke. Und während die letzten Töne von „What about me“ verklingen, geht‘s zurück auf die Schiene, weicht die älteste Stadt des australischen Landesinnern langsam zurück, macht Platz für Weizenfelder und Eukalyptusbäume.

Father Christmas zieht sich in seine Kabine zurück. Nur gut zwei Quadratmeter groß ist sie, und besitzt doch alles, was man für drei Tage an Bord braucht: einen Sitz, der abends, zum 1.80 x 60 cm großen Bett ausgezogen, den ganzen Raum ausfüllt und die Tür blockiert. Ein Klappwaschbecken samt Handtuchhalter am Fußende, ein 15 x 15 cm großes Ausziehtischchen am Kopfende, Klimaanlage, Lautsprecher und eine ins Fenster integrierte Jalousie als Licht- und Sichtschutz.

„Platinum Class“ nennt sich dieser Erste-Klasse-Komfort, auf den ersten Blick etwas einfach und beengend wirkt, aber sich deutlich vom ebenfalls gehobenen Gold Service abhebt, deren Zwei- und Dreibettabteile deutschen Liegewagen ähneln. Noch günstiger sind die Red Service Sleeper and Red Service Daynighter, Abteile mit einfachen Sitzen oder Pullmanliegen.

Doch für alle gilt: Als Gepäck darf nur Zahnbürste, Wechselwäsche und das Allernötigste mitgenommen werden – das sonstige Gepäck wird noch auf dem Bahnsteig durchleuchtet, registriert und hinter orangemaschigen Fangnetzen im Gepäckabteil verstaut. Nur für Father Christmas gibt es eine Ausnahme.

Megastrecke im Schneckentempo

Mit Tempo 30 frisst der „IP“, wie ihn die Aussies nennen, Kilometer um Kilometer. Das leise Rattern und leichte Schaukeln sorgt für eine fast meditative Trance, die die vorbeiziehende Landschaft mit ihrer großen Weite noch verstärkt. Auf den intensiven Eukalyptusdunst der blauen Berge, der durch jede Ritze in den Zug eindringt, folgt das sanft gewellte Bauernland des Murray-Darling-Beckens.

Dann blühen Wattle-Akazien goldgelb, setzten Jacaranda-Blüten leuchtende lila Tupfen ins spärliche Mattgrün. Immer karger wird das Land. Mulgabäume und Spinifex-Gräser säumen die offene Steppe bis an den Horizont. Steht ein einzelnes Rind am Gleis, zieht der Lokführer laut das Horn.

Pünktlich zum Dinner: das Outback. Während livrierte Kellner südaustralische Jakobsmuscheln im nostalgischen „Queen Adelaide“-Speisewagen auf Porzellan servieren, liegen neben den Servietten Handys und Kameras schussbereit für ein Motiv, den jeder Gast mit heimbringen möchte: ein Känguru.

„In der Dämmerung haben Sie die besten Chancen, die Hüpfer zu sehen“, erzählt Barbra White, die seit elf Jahren als Krankenschwester für den Royal Flying Doctor Service (RFDS) arbeitet.

Von ihren 23 Stationen im Outback erreichen die fliegenden Ärzte jeden Ort im Outback in weniger als zwei Stunden und sind bei schweren Unfällen oder Krankheiten sofort zur Stelle. Gegründet wurden der medizinische Flugdienst, für den der Zug alljährlich Spenden sammelt, 1928 von einem Geistlichen aus Queensland: John Flynn. Überlebensgroß steht seine Büste vor der Basis, auf der Barbra im Einsatz war: in Broken Hill.

Mitternacht in der Silver City

Kurz vor Mitternacht hält der Indian Pacific mit kreischenden Bremsen im Bahnhof der Boomtown im Nirgendwo. 1883 war dort der deutschstämmige Grenzreiter Charles Rasp auf einer Felsnase, die er als „broken hill“ bezeichnete, über einen Silberklumpen gestolpert. „The Hill“ erwies sich rasch als größtes Silber-, Blei- und Zinkvorkommen der Welt. Um 1900 holten 10.000 Bergleute aus 16 Minen 500.000 Tonnen Erz aus dem Boden – pro Mann knapp 50 Tonnen. Heute fördern die 400 Männer der Perilya Mine mit großem Gerät ein Vielfaches: 2,8 Millionen Tonnen pro Jahr. Silver City nennt sich Broken Hill stolz.

Auch auf der Schiene bleiben die Aussies ihrem Tagesrhythmus treu. Ein frühes Dinner, ein Plausch mit Mitreisenden im Salonwagen, und ab in die Koje. Gegen neun Uhr abends geistert niemand mehr über die Flure. Auch aus der Kabine von Father Christmas dringt tiefes Schnarchen. Ohne einen einzigen Stopp gleitet der Indian Pacific durch das nächtliche Outback.

Vollmond statt Fernsehen

Das Handy empfängt seit Stunden kein Funksignal mehr, statt Fernsehen gestaltet der Vollmond das Abendprogramm, der den Busch beleuchtet und in eine mystische Landschaft verwandelt. Umso früher sind die Rei-enden am nächsten Morgen auf den Beinen, begrüßen die ersten Morgenstrahlen um sechs Tee trinkend und “ready for the Brekkie”, fürs Frühstück.

Dazu gibt es draußen: Adelaide, Hauptstadt Südaustraliens und selbst ernannte Festival City. Im März feiert sie mit dem Adelaide Festival of Arts das größte Kulturfest im asiatisch-pazifischen Raum. Und fast zu gleichen Zeit noch Adelaide Fringe, mit 900 Events an 300 Orten, und WOMADelaide als Weltfest für Musik, Kunst und Tanz.

Vor der Jahrtausendwende galt Adelaide als ein wenig verschlafen, hatte mehr Kirchen als Pubs, mehr Kultur als Probleme. Das hat sich bis heute kaum verändert. Noch immer ist Adelaide im Herzen ein englisch geprägtes Idyll, ein Rechteck aus Straßen im Raster, umgeben von Parks, durchzogen vom Torrens River, urgemütlich und überschaubar.

Auf dem Bahnstein wirft Father Christmas die letzte Schokolade in die Menge. Hinter Port Augusta beginnt seine eigentliche Mission: den indigenen Kommunen entlang der Schienenstrecke Dank zu sagen. Und ein wenig Kultur und Unterhaltung in die Wüste zu bringen. Dazu holt sich Father Christmas alljährlich bekannte australische Künstler mit an Bord: Marcia Hines (2002), John Paul Young (2003), Jimmy Barnes (2004), Guy Sebastian (2005) und Human Nature (2006) packten bereits unterwegs ihre Instrumente aus, selbst Country-Barde John Williamson gab schon Gratiskonzerte in der Weite von Nullarbor.

Ohne Baum, bedeutet ihr Name auf Lateinisch, „nullus arbor“. „Schon schwer, sich vorzustellen, dass dies hier alles mal Meeresboden war“, sagt der Schaffner, der jetzt Zeit hat für einen Plausch, und zeigt auf die größte Kalksteinplatte der Erde. „478 Kilometer lang geht‘s jetzt schnurgerade geradeaus, ohne eine einzige Biegung – das gibt‘s nur einmal auf der Welt!“

Dry Creek, Two Wells, Crystal Brook, Wirraminna, Kitchener und Koolyanobbing heißen die winzigen Weiler, in denen Aluhütten und Holzkaten Staub und Hitze trotzen. In Cook lebten einst vierzig Leute, heute sind‘s vier – eine Familie mit zwei Kindern. Doch 1971 machte eine Gerücht den Ort weltweit berühmt.

Die nackte Nymphe von Nullarbor

Eine Blondine, die „Nackte Nymphe von Nullarbor“, lebe mit Kängurus im Busch – das war sogar der BBC eine Sondersendung wert. 40 Jahre später benannte man Loch sieben am Nullarbor Links Course nach ihr – der 18 Loch-“Platz“, der sich 1.365 Kilometer lang vom südaustralischen Ceduna bis ins westaustralische Kalgoorie erstreckt, ist der größte Green der Welt. Jeden Kilometer, den der Indien Pacific zurück legt, haben Menschen, Mythen und Legenden geprägt.

Westlich von Rawlinna rückt die Zivilisation wieder näher. Erst Rinderfarmen, dann Felder, später alte Orte, neue Gewerbegebiete, Villenviertel, Hochhäuser. Perth. Nach 65 Stunden und 4.352 Kilometern endete die Reise an der East Perth Railway Station. Father Christmas wischt sich den roten Staub von den Schuhen und winkt.

Dieser Beitrag ist im Dezember 2014 im Lonely Planet Traveller erschienen.

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