In Surinam, demI kleinsten Staat Südamerikas, fanden entflohene Sklaven mitten im Urwald ein sicheres Versteck. Dort halten die Maroonen seitdem ihre westafrikanische Kultur lebendig.
Dicht säumt Regenwald die Ufer des Suriname River. Mal ragen Palmen schlank aus der Sinfonie in Grün, dann die blätterlose Krone eines Can-Can-Trees. Kaimane sollen sich hier zwischen Mangrovenwurzeln verstecken, Geparde durch den Urwald streifen: Hier, im Binnenland von Surinam, leben mit den Maroonen die Nachfahren von Sklaven aus Ghana, Benin, Togo und Angola, denen die Flucht von den Plantagen gelungen war. „Boes’ negre“ (Buschneger) nennen sie sich selbst.
Als Maroonen bezeichnen sie die Niederländer, die in Pikin Slee das erste Museum zur Afro-Kultur im Urwald finanziert haben. Sechs große Gruppen haben im dichten Grün, das bis heute 87 Prozent des Landes bedeckt, ihre Heimat: Saramaccaner und Paramaccaner, Kwinti, Ndyuka, Boni und Matawa. Auf Lichtungen und Rodungen, vom Fluss nicht einzusehen, legten sie Dörfer und Felder an und bewahrten ihre westafrikanische Kultur. Mit Winti-Geistern und Voodoo, eigener Rechtssprechung und eigener Sprache. Erst 1963 erhielten sie das Wahlrecht.
Graanman und Kapiten heißen ihre Führer. „Doch die wahre Macht halten die Frauen“, sagt Kapiten Raamon Baabo, Bürgermeister von Lebi Doti. Das Inseldorf liegt mitten im Brokopondo Reservoir, das 1964 gegen den massiven Widerstand der Maroonen im Regenwald angelegt wurde. Die Wasserfläche hinter der 54 m hohen und fast zwei Kilometer langen Staumauer aus Beton ist mit 1.500 Quadratkilometern fast drei Mal so groß ist wie der Bodensee. 29 Dörfer wurden dafür geflutet, 6.000 Maroonen in Behelfssiedlungen wie Nieuw Koffiekamp umgesiedelt. Treibende Kraft war die Suriname Aluminium Company (Suralco), die Strom für ihr Aluminiumwerk benötigte.
Wer nicht weichen wollte, starb unter den Wassermassen. Hunderttausende Kadaver lagern am Grund des Sees. Sein früher glasklares Wasser ist heute trüb. „Das liegt an der Umweltverschmutzung durch den Goldabbau. Der hat unser Trinkwasser, unsere Fische und Pflanzen mit Quecksilber verseucht“, schimpft Kapiten Baabo. 70 – 100 Prozent der Kinder und schwangeren Frauen haben das Quecksilber, mit dem das Gold aus dem Flusskies gewaschen wird, jetzt im Blut.
In Atjoni endet die Schlaglochpiste. Tiefer ins Land der Maroonen geht es nur im Einbaum, wendigen „Koreals“ in Rot, Gelb und Hellblau. „Die Granitfelsen, die die Ufer säumen, verblocken auch den ganzen Fluss“, erzählt der junge Marooni Marcel Chandoesing. „Je nach Wasserstand liegen sie mal tiefer, mal dichter unter der Oberfläche. Bei einem Zusammenstoß können sie das ganze Boot zerstören“. Seine Handzeichen geben dem Mann am Ruder den Kurs vor. Selbst bei Nacht erkennt Marcel die gefährlichen Felsen. „Ich höre, wie das Wasser fließt.“
Im Licht der Nachmittagssonne, die ringsum glatt polierte Granitfelsen leuchten lässt, waschen an den Ufern Frauen ihre Wäsche im Fluss. Sie tragen kariertes Leinen. So, wie es Captain Boston 1762 gefordert hatte. Das untere Tuch – „hangsia“ genannt – wird um die Taille gebunden und dient zugleich als Trage für Babys und Messer. Oben haben bunte BHs oder T-Shirts den traditionellen Tuchstreifen über der Brust verdrängt, dessen Länge auf dem Rücken verriet, ob eine Frau noch zu haben oder bereits verheiratet war.
Eine Treppe führt einen kleinen sandigen Steilhang hinauf zum Eingang der Dörfer, wo jeder Besucher den „Asamapa“ durchschreiten muss. Der Vorhang aus Palmwedeln streift alle bösen Geister und Gedanken ab. Wer ihn umgeht, macht sich sofort verdächtig. Dahinter säumen kleine Hütten aus Holz, spitz wie Zelte und gerade groß genug zum Schlafen, den Rand des Dorfes: So wohnen die Männer. Die stattlichen Häuser der Frauen bilden das Dorfzentrum. Hinter kunstvoll geschnitzten Türen mit geometrischen Mustern präsentiert ein Regal, das die ganze Wand einnimmt, die Besitztümer: Topfdeckel, Teller und T-Shirts.
Frauen, die menstruieren, haben eine eigene Hütte vor dem Dorf. Während der Tage dürfen sie weder Babys berühren noch Holz hacken, Wasser tragen oder mit einem Mann im selben Kanu sitzen – denn ihre Uterusflüssigkeit gilt als tödliches Gift. Daher gibt es in jedem Dorf separate Wege für Männer und Frauen. „Die Geschlechter sind bei uns stärker getrennt als im Westen. Die Paare leben nicht zusammen. Jeder Mann darf mehrere Frauen haben, so lange er sie gut versorgen kann: mit einem Haus, Boot und Essen“, erzählt Baney Asondanoe. Stolz posiert der Kapiten von Goejaba mit gleich vier Frauen im Regenwald, während er am Handy telefoniert. 4G ist in den Dörfern Standard – auch eine Folge des Goldabbaus.
Familie in unserem Sinne kennen die Maroonen nicht. Der Mann ist Erzeuger und Versorger, die Frau zuständig für den Nachwuchs, den die Mütter gemeinsam unter die Fittiche nehmen. – haben sie doch oft Kinder vom gleichen Mann. Mitunter verliert selbst der Kapiten den Überblick über die Vaterschaften im Dorf. Daher wird jeglicher Besitz nur über die mütterliche Linie vererbt.
Der Spagat zwischen den Statussymbolen der Moderne, zu denen T-Shirts von Disney oder Traumzielen wie New York gehören, und dem Leben wie einst gelingt den Maroonen anscheinend mühelos. Vor den Holzhütten reiben Frauen Maniokwurzeln in kleine Schnitzel, pressen mit geflochtenen Manatee-Röhren den Saft heraus und stampfen daraus mit großen Mörser einen flachen Teig, der auf runden Backblechen auf das offene Feuer im Feuer gebacken wird, zuvor per Finger verziert. Wenige Minuten später ist das Cassava-Brot fertig und trocknet auf dem Wellblechdach in der Sonne.
Sobald die Dunkelheit hereinbricht, tanzt das Dorf. Die Frauen beginnen mit einem Seketi. Sie klatschen mit Händen eine Botschaft, die eine zweite Gruppe mit Füßestampfen beantwortet – einst die einstige Sprache, die den Sklaven erlaubt war. Worte benutzen durften sie nicht. Dann werfen die Männer parallele Stangen hoch in die Luft, präsentieren sich als Kerl und Krieger, ehe die Beats immer schneller werden, im Licht des Feuers Frauen Bauch, Brüste und Becken rollen, die sprechenden Trommeln Vereinigung fordern.
Dieses für uns fremde afrikanisches Stammesleben mit ihrer Animismus- und Winti-Religion lockte auch Viviane Sassen in den Busch. 2012 besuchte die niederländische Modefotografin die „Buschneger“ von Pikin Slee und fotografierte ihr Leben. Herausgekommen sind keine Portraits, sondern Detailaufnahmen und Impressionen, poetisch in schwarz-weiß und streng komponiert.
So wie die Werke der Kunsthandwerkerkooperative Tompoti. Edje, Will Go, Nbentini und Sankys Doelha, vier Männer mit Dreadlocks, fertigen in einer Wellblechhalle aus Groenhart-Holz kunstvoll verzierte Stühle, Tische und Türen. Auf dem Tresen bieten sie handgeschnitzte Kämme und Löffel feil. „Das sind traditionellen Geschenke für die Frauen“, sagt Will Go. „Wer bei uns eine Frau haben möchte, muss sie sich erst einmal verdienen!“
Hintergrund: Das globale Dorf
Kein Land der Welt ist so multikulturell: Aus Afrika, Asien, Arabien und Europa kamen die Menschen nach Surinam und sorgten für eine ethnische Vielfalt, die sich in der Religion widerspiegelt: Islam, Hinduismus, Animismus und Christentum existieren friedlich nebeneinander. So gelingt das Verblüffende: In Surinam hat es noch nie Streit um den Glauben gegeben.
Weiß, rot, grün flattert die Landesflagge von Surinam am Unabhängigkeitsplatz von Paramaribo im Himmel. In ihrer Mitte prangt ein goldener Stern – für jede der fünf Ethnien eine Spitze.
Als die ersten Glücksritter und Abenteurer aus Europa ankamen, war Suriname mehrheitlich von Indianervölkern besiedelt, die sich wie die Kariben aggressiv der Kolonialisierung widersetzten. Erst durch die Zwangsmigration von Sklaven aus Westafrika sowie Vertragsarbeitern aus China, Indien, Indonesien, Arabien und den Niederlanden wurde Suriname zu jenem bunten Völkergemisch, das sich heute als „erste Multi-Kulti-Gesellschaft der Welt“ rühmt.
38 Prozent sind Nachfahren ehemaliger afrikanischer Sklaven – sie leben im Regenwald als Maroonen (22 Prozent), entlang der Küste als Kreolen (16 Prozent). 27,5 Prozent der Bevölkeru g sind indischer Herkunft, 14 Prozent stammen aus Indonesien, 7,5 Prozent sind Chinesen, Araber, Europäer und Indigene.
Jede Ethnie brachte nicht nur eine, sondern gleich mehrere Glaubensrichtungen nach Suriname: So gibt es unter den Hinduisten nicht nur die strenggläubige Sanatan Dharm, sondern auch die liberale Arya Samaj. 40 Prozent der Christen gehören der römisch-katholischen Kirche an; fast ebenso viele der Pfingstgemeinde. Auch die Herrnhuter Brüdergemeinde ist in Surinam vertreten. Alle packen gemeinsam an, bringen in ökumenischen Projekten Bildung in entlegene Dörfer oder machen auf die Folgen des korrupten Goldabbaus aufmerksam. Nur gemeinsam, sagen sie, ist ihre Stimme so stark, dass die Welt sie hört, sagen sie.
Toleranz und Respekt sind in Suriname selbstverständlich, sagt Präsident Desi Bouterse. Dass dieser Satz nicht Politpropaganda ist, beweist die Hauptstadt Paramaribo. Einträchtig stehen die größte Moschee der Karibik und die schlichte Neveh Shalom Synagoge an der Keizerstraat friedlich nebeneinander, nur wenige Schritte entfernt vom Arya Dewaker-Hindu-Tempel und der St. Peter-und-Paul-Kathdrale, dem größten Holzbau der westlichen Hemisphäre. Ist dies ein Erbe der niederländischen Toleranz? Gewalttätige religiöse Zwiste hat der kleinste südamerikanische Staat bisher nicht erlebt.
Alljährlich am 25. November feiert Suriname seine Unabhängigkeit, und schon Tage vorher ist das ganze Land im Freudentaumel, dekoriert Straßen, Läden und Häuser mit der Staatsflagge, tanzt, singt und freut sich mit Nachbarn, Freunden und Fremden. Gemeinsam feiern alle Religionen die vielen Feste im Jahreslauf: Silvester und chinesisches Neujahrs, Ostern und hinduistische Frühlingsfest Holi, den Tag der Maroonen, das hinduistische Lichterfest Diwali, Weihnachten, das Ende des Ramadans mit dem Zuckerfest Id-ul Fitr und das islamische Opferfest Eid el-Adha
Damit es die friedvolle Völkervielfalt Zukunft hat, folgte Suriname einer Initiative der Herrnhuter und führte 2017 als erstes Land der Welt die „Levensbeschouwelijke Vorming (Lebensbeschauliche Ausbildung)“ als neues Unterrichtsfach ein. Das Ziel: Junge Menschen für Normen und Werte in eigenen und fremden Kulturellen zu sensibilisieren – und das nicht nur in der Gesellschaft und im Glauben, sondern auch in der Kultur und Natur.
Dieser Beitrag ist im Februar in der Ausgabe 2/2018 des Monatszeitschrift “frau und mutter” anlässlich des Weltgebetstag 2018 am ersten Freitag im März erschienen. Der kleinste südamerikanische Staat ist 2018 Gastgeberland.
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Im Online-Reisemagazin www.schwarzaufweiss.de habe ich den Küstenbereich von Surinam vorgestellt.
Surinam im Bild
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