Ganz Südamerika haben die Spanier und Portugiesen geprägt. Nur eine sumpfige Küste mit wildem Hinterland haben sie den Holländern überlassen: Suriname. Ist ihr Erbe heute dort lebendig? Eine Spurensuche im kleinsten Staat Südamerikas, einem der vergessenen Winkel der Welt.
„Surreyham“ hatte Baron Willoughby of Parham das mittlere Land der Guyanas genannt, das für ihn der Garten Eden war: „ein wahrhaft paradiesischer Flecken, der herrliches Land, stolze Bäume und edles Holz hervorbringt“. 1667 mussten die Engländer ihr tropisches Kleinod gegen einen kalten Streifen in Nordamerika tauschen: Der Vertrag von Breda machte Holland zum neuen Herrscher. England erhielt im Gegenzug Nieuw-Amsterdam, das spätere New York – und verlor das eingetauschte Land bereits ein Jahrhundert später.
Paramaribo: koloniales Welterbe
Die Niederländer blieben bis 1975. Ihren Neuerwerb sicherten sie mit dem Fort Zeelandia, heute ein Museum zur Kolonialgeschichte. Trutzig spiegelt sich die Backsteinfestung im Suriname River, der sich dem Atlantik zuwälzt. Breit und behäbig wie die Frauen, die im Schatten hoher Mahagoni-Bäumen geknüpfte Tücher, Muschelketten und Schmuck aus Kernen verkaufen.
Vom hohen Sockel blickt Königin Wilhelmina auf die Domizile ihrer Beamten. Als Garde in Weiß säumen die Holzvillen die „Waterfront“ von Paramaribo. 230 von ihnen haben in der Hauptstadt von Suriname Großbrände, das Ende der Sklaverei (1863) und den Bürgerkrieg (1986-1992) überlebt – als komplett erhaltene, koloniale Kapitale, in der die tradierte Baukultur der Niederlande der neuen Heimat angepasst wurden: mit Harthölzern statt Backstein und hohen, steilen Dächern, die Tropenregen standhalten konnten. Seit 2002 gehört die Altstadt von Paramaribo zum Welterbe. Und wird seitdem mit Geldern von den Niederlanden und der EU restauriert.
Mit ihren hellen Fassaden, grünen Fensterläden und roten Dächern greifen die Bauten die Farben der Landesflagge auf. Über Mangobäumen und Palmen, dem schiefen Hof van Justie mit seinem imposanten Säulen und dem protzigen Präsidentenpalast, der nachts in Bonbonfarben illuminiert wird, flattert sie in Weiß, Rot und Grün am Unabhängigkeitsplatz in der Brise. In ihrer Mitte prangt ein goldener Stern – für jede der fünf Ethnien eine Spitze.
Als die ersten Glücksritter und Abenteurer aus Europa ankamen, war Suriname mehrheitlich von Indianervölkern besiedelt, die sich wie die Kariben aggressiv der Kolonialisierung widersetzten. Erst durch die Zwangsmigration von Sklaven aus Westafrika, Indien und Java sowie Vertragsarbeitern aus China und den Niederlanden wurde Suriname zu jenem bunten Völkergemisch, das sich heute als „erste Multi-Kulti-Gesellschaft der Welt“ rühmt.
Dass dies nicht nur Politpropaganda ist, beweisen zwei Gebäude an der Keizerstraat: Einträchtig stehen die größte Moschee der Karibik und die riesige Synagoge friedlich nebeneinander – ein Erbe der niederländischen Toleranz? Gewalttätige religiöse Zwiste hat das Land bisher nicht erlebt.
Nieuw Amsterdam: Fotokunst im Fort
Dort, wo sich der Suriname River mit dem Commewijne River zum kilometerbreiten Strom vereint, in dem sich Delfine mit rosa Bäuchen Kameras klicken lassen, beginnt das alte Plantagenland der Niederländer. Gesichert wurde es durch das Fort Nieuw Amsterdam. Zwischen Erdhügeln und fünf Bastionen tummelten sich kleine Kaimane in den Wehrgräben, Seerosen bedecken Tümpel und Teiche.
Im verlassenen Gefängnis hängt Fotokunst von Nicolaas Porter an Wänden, die mit Spuren von Graffiti und Einschüssen übersät sind: aufwühlende, dunkle Aufnahmen von Nachfahren afrikanischer Sklaven, für die der Fotograf aus Den Haag 2012 mit dem World Portrait Prize ausgezeichnet wurde.
„Ich zeig’ Ihnen mal was“, sagt Manuel Hagemeijer (41) und deutet hinter dem Herrenhaus auf eine Betonfläche am Boden, die das Grün aufbricht. „Der älteste Kaffeetrockenboden des Kontinents!“ Viel mehr war nicht erhalten geblieben, als seine Eltern Ton und Marian Hagemeijer 1976 das völlig vernachlässigte Anwesen übernahmen. Ton hatte sich während des Wehrdienstes, den er in den 1960er-Jahren wie viele andere Niederländer in Suriname ableisten musste, in das Land verliebt.
Und immer gehofft, zurückzukehren. Ein Jahr nach der Unabhängigkeit machte er seinen Traum war, betrieb Rinderzucht und Ackerbau und baute Frederiksdorp nach alten Plänen so originalgetreu auf, dass er selbst die Statuen wieder aufrichtete und den Kerker auf Vordermann brachte.
Stolz zeigt er verblichene Fotografien in Plastikhüllen, die von der Mammutaufgabe erzählen. Und von der Umwandlung in ein Hotel mit sechs nostalgischen Ferienwohnungen, die der Senior mit Sohn Manuel zur Jahrtausendwende in Angriff nahm. Geld für das Vorhaben gab es vom Suriname Integrated Tourisme Developement Programme (ITPD), das die EU unterstützt. „Besonders beliebt sind diejenigen Unterkünfte, zu denen Treppen führen“, erzählt Manuel beim Rundgang. „Denn je höher das Haus auf Stelzen steht, desto höher war einst der Rang des Bewohners“.
Mijnherr im Regenwald
Leen Bakker indes hat es ins Binnenland gezogen. Umgeben von undurchdringlichem Regenwald, der noch 87 Prozent des Landes bedeckt, betreibt der hochgewachsene Mijnherr aus Holland mit seiner Frau von den Seychellen die Danpaati Lodge. Von den Hängematten, die vor ihren elf hölzernen Hütten auf der Veranda baumeln, gleitet der Blick über glatt polierte Granitfelsen, die im flachen Licht der letzten Sonne von rosa bis rost leuchten, zu bunt bemalten, hochmotorisierten Koreal-Kanus am sandigen Ufer des Suriname River. Nur bis Atjoni, drei Paddelstunden flussaufwärts, war es den Niederlanden gelungen, Suriname zu prägen. Mit ihrer Sprache, ihrem Rechtssystem und dem Christentum.
Mit dem Kanu in den Dschungel
In Atjoni jedoch endete die Straße. Weiter ins Landesinnere, hinein in den Rückzugsraum der vor 1863 entflohenen Sklaven, geht es bis heute nur per Boot. Auf Lichtungen und Rodungen, vom Fluss einst nicht einzusehen, bauten sie ihre Dörfer und bewahrten ihre westafrikanische Kultur. Mit Winti-Geistern, Voodoo, Graanman und Kapitenen als Führer, eigener Rechtssprechung und eigener Sprache.
„Boes Negre“ (Buschneger) nennen sie sich noch heute stolz; als Maroonen oder Marrons bezeichnen sie die auf politische Korrektheit bedachten Niederländer, die in Pikin Slee das erste Museum zur lebendigen Afro-Kultur in Suriname finanziert haben. Zugang gewährt ein „Asamapa“, wie er vor jedem Dorf zu finden ist: ein Geisterabstreifer aus Palmwedeln. Hinter kunstvoll geschnitzten Türen stapeln sich in den geräumigen Frauenhäusern die Besitztümer in einem Regal, dass die ganze Wand einnimmt: Topfdeckel, Teller und T-Shirts.
Bei den Buschnegern
Gerade nur zum Schlafen groß genug sind die Männerhütten mit Spitzdach. „Bei uns leben die Paare nicht zusammen“, erklärt der Kapiten von Botopasi, löffelt Erdnuss-Suppe, umarmt drei Frauen und sagt stolz: „Jeder Mann kann bei uns so viele Frauen haben, wie er versorgen kann“. Ein Albtraum für die prüden Niederländer, deren größtes Erbe für viele, die das erste Mal Suriname besuchen, zwei Dinge sind: Pindakaas (Erdnussbutter) zum Frühstück und „Drempel“, die selbst in entlegenen Landstrichen plötzlich als Bremsschwelle aus Beton breit auf der Straße liegen und den Verkehrsfluss stoppen.
Informationen
Anreise
Von Amsterdam mit Surinam Airways (www.flyslm.com) und KLM (www.klm.com) in rund neun Stunden nach Paramaribo.
Einreise
Reisepass + Tourist Card, bei der Ankunft für eine Einreise erhältlich (20 Euro).
Elektrizität
127 V AC, 60 Hz. Adapter sind nicht erforderlich, da Zweistiftstecker Standard.
Gesundheit
Nach Angaben des surinamischen Gesundheitsamtes ist Suriname seit 2005 malariafrei. Bester Insektenschutz sind lange, luftige Kleidung und Insektenmittel wie „No Bite“. Schutz vor Hepatitis A+B und Typhus empfohlen.
Klima
Ganzjährig tropisch. Tagestemperaturen nie unter 25° C, Regenzeit: März bis Juli, Dezember bis Januar, trockenste Monate: September und Oktober.
Unterkünfte
Torarica Hotel, 1, Rietbergplein, Paramaribo, Tel. +597 47 15 00, www.torarica.com. 132 Zi., DZ pro Nacht ab 140 €
Frederiksdorp Plantage, Frederiksdorp Commewijne, Tel: +597 45 30 83, www.frederiksdorp.com; Fewo pro Nacht ab 60 €
Danpaati River Lodge, Postanschrift: Anniestraat 14, Paramaribo, Tel. +597 47 11 13, www.danpaati.net; DZ pro Nacht ab 60 €
Reiseführer
Footprint Travel Guides, Guyana, Guyane, and Suriname, £ 5.99 (2011). Der einzige halbwegs aktuelle und erhältliche Reiseführer auf dem Markt. Als gedrucktes Werk oder PDF-Download nach Kapiteln, www.footprinttravelguides.com
Bernhard Conrad, Suriname, edition aragon, 39,90 €. Das bislang einzige Buch deutscher Sprache über die ehemalige niederländische Kolonie, 2011 verlegt, ist leider derzeit vergriffen. Tipp: gebraucht bei Amazon!
Auskunft
Suriname Tourism Foundation, Dr. J.F. Nassylaan 2, Paramaribo, Tel. +597 422-916, www.surinametourism.sr
Buchtipps
John Gimlette, Wilde Küste, DuMont, 16,99 €.
Zwischen Orinoco und Amazonas liegt im Nordosten Südamerikas das „Land der vielen Wasser“: die Guyanas – Guyana, Suriname und Französisch-Guyana. John Gimlette hat die neunhundert Kilometer lange Sumpfküste und ihr wildes Hinterland durchstreift und seine Erfahrungen, Eindrücke und Ausflüge in die Geschichte als 489 Seiten dickes, packendes Reiseabenteuer verpackt. Unbedingt lesenswert – als gedrucktes Werk oder E-Book! http://shop.dumontreise.de
Cynthia Henri McLeod, Die Schwestern von Suriname. Basteil-Lübbe 1998. Antiquarisch bei Amazon zu unterschiedlichen Preisen. Historischer Roman der berühmtesten Schriftstellerin und Geschichte-Erzählerin von Suriname.
Viviane Sassen: Pikin Slee. Prestel, 2014, 39,95 €. Bildband der renommierten Amsterdamer Modefotografin, die im Regenwald ein Maronendorf eindrucksvoll festhielt – in 33 Schwarzweiß- und 66 Farbfotografien.
Die Autorin reiste auf Einladung des staatlichen Tourismusamtes Suriname Tourism Foundation, www.surinametourism.sr
Dieser Beitrag ist in 2016 in Die Welt erschienen.