300 zackige Spitzen, 110 tiefgrüne Bergseen, urige Hütten in tiefen Wälder und traumhafte Ruhe: Auf 50 x 15 Kilometer präsentiert sich die Hohe Tatra als Tannentraum in XXL.
Langsam steigt die Sonne hinter dem Wald auf und lässt den Morgentau im Tal von Podhale funkeln. Mitten im Sommer ist die Luft würzig, kitzelt die morgendliche Frische die Haut. Zu Hunderten grasen Schafe hinter einer „Bacowka“, einer dunkeln Zelthütte aus Holz.
Aus dem Kamin steigt Rauch auf. Drinnen rührt Jan Urbas mit einer großen Holzgabel im Kessel auf dem Feuer Schafsmilch und Lab, bis sich erst kleine, dann immer größere Käse-Klumpen bilden. Den ganzen Sommer wohnt der 63-jährige hier, schläft auf einem klapprigen Metallbett neben der Flamme, während auf den Firstbalken über dem Feuer der salzige Hartkäse „Oscypek“ im Rauch reift.
Jan ist ein Gorale, ein Berghirte. Sein Heimatdorf ist Chocholów. Grobe Blockhäuser, erbaut aus einem einzigen Baum, säumen giebelständig die schmale Straße, ducken sich unter wuchtigen Satteldächern und Halbgiebeln aus Holzschindeln.
Einen Meter dick sind die Wandbalken, geschlagen aus all jenen Baumveteranen, die sich in der Hohen Tatra an den Fels krallen. In den Vorgärten blüht Löwenzahn; die Scheunen teilen sich Schafe, Kühe und Karpatenkäse.
Für sechs Zloty, nicht einmal zwei Euro, verkaufen Frauen mit Kopftuch den traditionellen Käse der Berghirten auf den Märkten. Noch etwas Wasser, ein rustikales Bauernbrot, und schon lasse ich mich von der ältesten Gondelbahn Europas auf den Kasprowy Wierch (1.985 Meter) bringen.
Der Hausberg von Zakopane ist im Winter Skiterrain von Cracks, im Sommer Aussichtsgipfel im kleinsten Hochgebirge der Welt. Sein Hauptkamm bildet die Grenze der beiden Tatra-Nationalparks in Polen und der Slowakei: ein riesiges Waldland, fast 1000 Quadratkilometer groß, eine Orgie in Grün.
Mit tiefgrünen Tannen im Tal, Millionen Fichten in der Mitte und zerzausten Zwergkiefern in der Höhe. Luchs, Wolf und Braunbär streifen durchs Unterholz, Murmeltiere tollen auf den Almen. Geradezu elegant zieht das scheue Wappentier des Nationalparks über die Geröllfelder: die Tatra-Gams – die alten Herrn sind Einzelgänger, die jungen Kerle, Geißen und Kitze in Herden.
Mir begegnen unterwegs Rehe und Hirsche, Wildschweine, Füchse und immer wieder neugierige Eichhörnchen, während ich der steilen Bergstraße hinauf zum Morskie Oko folge, stramm bergauf, stundenlang. Immer wieder überholen mich Pferdekutschen. Soll ich zusteigen…? Als Flachlandtirolerin rinnt mir der Schweiß von der Stirn.
Nur selten gewähren Tannen etwas Kühlung. Eine letzte Steigung, dann kommt eine rustikale Berghütte in Sicht, erbaut aus dunklem Holz. Auf ihrer Terrasse bestimmt das Klicken der Kameras den Rhythmus der Gespräche. Samaragdgrün und glasklar ruht das „Meeresauge“ in einem Kessel aus Kalk auf 1.393 Meter Höhe.
An seinen zerklüfteten Flanken hängen selbst im Sommer steile Schneebänder. Moose und Farne wuchern am Ufer, Sumpfdotterblumen leuchten gelb in den Feuchtwiesen. Kinder lassen Kiesel ins Wasser hüpfen. Kunststudenten halten eine sprichwörtlich sagenhafte Szenerie auf ihrer Staffelei fest: schwimmende Fische unter meterdickem Eis.
Dieses ungewöhnliche Naturschauspiel ließ die Goralen an eine unterirdische Verbindung mit der Adria glauben. Sogar Wracks von Schiffen, die im Meer versunken waren, sollen im Morskie Oko wieder aufgetaucht sein. Erst in den 1990-er Jahren entzauberten polnische Geologen die Legende der Vorväter: Der See sei genau 50,80 Meter tief – und die Verbindung zum Meer reinste Fantasie.
Spitze!
Die Hohe Tatra ist in den oberen Lagen ein hochalpines Terrain. Die meisten Gipfel dürfen nur mit Bergführer bestiegen werden. Ausnahme: die drei Zacken des 2.499 Meter hohe Rysy. Sein Nordwestgipfel ist Polens höchste Spitze, die beiden anderen liegen in der Slowakei. Der Grenzübergang ist schwindelerregend!
Patriotisch
Am 16. August stapfen die Slowaken durch Altschneefelder hinauf zum Kriváň (Krummhorn) – der Berg ist seit 1841 Nationalsymbol der Slowakei und sogar auf den Ein-, Zwei- und Fünf-Eurocentmünzen abgebildet. Von der Hohen Tatra über die Niedere Tatra bis zur weiten Zipser Ebene liegt ihnen dann die Slowakei zu Füßen.
Prost
Im Winter geht nichts über „Piwo grzane“ , sagen die Locals in der hohen Tatra, und lassen es begeistert durch die Kehlen rinnen: lauwarmes Bier, gemixt mit Sirup und winterlichen Gewürzen wie Nelken, Sternanis, Kardamom und Zimt. Getrunken wird das „Glühbier“ stets per Strohhalm. Und oft noch versetzt mit einem ordentlichen Schuss Rum….
Dieser Beitrag erschien 2018 im “Waldwunder” des DuMont Reiseverlag.
Die Wälder vor unserer Haustür stecken voller Schönheiten und Überraschungen, die darauf warten, entdeckt zu werden. Nach dem Meeresrauschen* nimmt euch das Waldwunder* mit in die faszinierenden Wälder Europas, vom hohen Norden bis zum Mittelmeer.
Ich entführe euch nicht nur in die Fjälls von Lappland und die Hohe Tatra, sondern auch in die Pyrenäen. Über meine Wahlheimat im Süden wacht die südlichste Spitze der Grenzberge zu Spanien, der Canigou. Wen wundert es da, dass ich auch die anderen Gipfel und Täler erkunden musste?
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