Mit überbreiten Hüften, den rechten Arm unter dem Kopf auf einem Kissen, den linken Arm schützend vor ihre prallen Brüste gelegt, ruht sie auf ihrem steinernen Bett: die “Sleeping Lady”, die schlafende Priesterin. Die bekannteste Steinzeitfigur Maltas wurde im Hypogäum von Hal Saflieni entdeckt.
Das unterirdische Höhlenlabyrinth, drei Stockwerke tief mit Knochen und Keilen in den Stein getrieben, zählt zu den faszinierendsten Zeugnissen der Megalithkultur Maltas (3.600 bis 2.500 v.Chr.).
Acht Jahre lang wurde dieser Tempel für die Toten restauriert. Als UNESCO-Weltkulturerbe im Herbst 2000 wieder eröffnet, können heute Besucher hier die einzige vollständig erhaltene neolithische Tempelanlage Europas multimedial entdecken.
In 23 Tempeln über der Erde huldigten die Bauer der Jungsteinzeit dem Leben. “Doch was sich vor 5000 Jahren in den Kammern, Nischen und Höhlen des Hypogäums abspielte, wissen wir kaum”, sagt Joseph Farrugia (48). Wurden hier, tief im Leib der Erde, der Muttergöttin blutige Opfer gebracht? Priesterinnen dieses Fruchtbarkeitskultes in ihr Amt eingeführt?
War das Gewirr der Gänge eine riesige Grabstätte für 7000 Menschen? Oder nur ein natürlich klimatisierter Getreidespeicher? Jede Frage, die der Museumsführer beantwortet, wirft neue Fragen auf. Nur spärlich beleuchten digital gesteuerte Strahler den Weg durch das Dunkel der Geschichte.
Per Zufall entdeckten Bauarbeiter beim Ausschachten einer Sickergrube 1899 die Kammern. Da der Eigentümer des Hauses fürchtete, sein Heim zu verlieren, hielt er den historischen Fund geheim. Doch die Gerüchteküche um den geheimnisvollen Keller brodelte. 1902 begann der “Vater” der maltesischen Archäologie, der Jesuitenpater Emmanuel Magri, mit Ausgrabungen.
Als Magri 1907 während einer Mission in Sfax/Tunisien verstarb, endeten die Arbeiten abrupt. Seine Aufzeichnungen gingen verloren. Das Hypogäum geriet in Vergessenheit. Erst 1910 begann mit Sir Themistocles Zammit (1864 – 1933) die professionelle Erforschung der 500 Quadratmeter großen Anlage.
1913 betraten die ersten Besucher das unterirdische Heiligtum. Eintretendes Wasser und klimatische Veränderungen führten 1992 zur Schließung der heiligen Höhle. Um den Tempel vor weiterer Zerstörung durch Licht, das Kohlendioxid der Atemluft und Berührungen zu schützen, sind heute nur wenige Bereiche für Besucher geöffnet.
Was nicht zu sehen ist, zeigt eine Multimedia-Show in zwölf Minuten zu Beginn des halbstündigen Rundgangs. Eine kleine Ausstellung präsentiert prähistorische Fundstücke: Keramikscherben, Knöpfe, Faustkeile und Figuren – lauter winzig kleine “fat ladies”, so die Archäologen, Frauendarstellungen in üppigster Fruchtbarkeit.
Schmale Stahlgittertreppen führen hinab zu ersten Ebene in drei Meter Tiefe. Hier haben die Bauarbeiten vor fast hundert Jahren die größten Schäden angerichtet – nur einige Kalkstein-Quader und Reste einstiger Zisternen leuchten im fahlen Licht der Scheinwerfer auf. Das Hauptheiligtum befand sich vermutlich im Mittelgeschoss in vier bis sechs Meter Tiefe.
Drei Stufen führen hinab zur Akustikhalle mit der Orakelnische. Schon ein Flüstern genügt, um die Stimme durch das gesamte Gangsystem zu leiten. “Da die Priesterin dabei nicht gesehen werden konnten, glaubten die Besucher an eine göttliche Botschaft”, sagt Farrugia. Das spirituelle Zentrum des Hypogäums schlug sieben Stufen tiefer – zehn Meter unter der Erde, im “Holiest of Holy”.
Die Wand am Eingang zum Allerheiligsten imitiert in seiner Architektur den Bau oberirdischer Tempel: Vier Pfeiler tragen einen steinernen Sturz; ein Türstein öffnet den Weg in den Opferraum. Die Vertiefungen im Boden wurden vermutlich für flüssige Opfergaben genutzt. An einem Wandloch wurden die Opfertiere angebunden. Kaum noch erkennbar sind die spiralförmigen Ornamente in Ocker.
“Früher leuchteten die Farben”, erinnert sich Joseph Farrugia. “Es war in letzter Sekunde, als wie merkten, dass im Licht der Strahler Algen wachsen, die alles zerstörten”. Kaum hat er den Satz gesprochen, dimmt sich bereits das Licht, zieht sich die Nekropole des Neolithikums ins Dunkel zurück.
Dieser Beitrag wurde am 1. Februar 2001 vom gms-Themendienst der dpa verbreitet und von zahlreichen deutschsprachigen Medien, darunter die Nordwest-Zeitung und der Ostthüringer Zeitung, veröffentlicht. Am 25. Juli 2001 ist er unter dem Titel “Fat Ladys im Heiligum” auf Spiegel Online erschienen.