Gozo: Die Insel des Odysseus

„Da“, sagt Reuben und zeigt auf Malta, „würde ich nie leben wollen. Und ihr macht da Urlaub. Warum?“ Verständnislos schüttelt der junge Mann den Kopf. So wie er denken und fühlen viele Einheimische auf Gozo. Ihre Insel ist ein Idyll – beschaulicher, ruhiger und ursprünglicher als der große Nachbar Malta.

In 30 Minuten schwebt der Hubschrauber von Malta hinüber nach Gozo. Durch die großen Fenster der Maschine präsentiert die Insel der Kalypso ihre Kontraste als perfektes Panorama: Steile Klippen und Fjorde prägen die Küste im Westen und Süden, weite goldene Sandstrände säumen die Buchten im Osten und Norden.

Auf den Terrassenfeldern im Landesinnern gedeihen Tomaten, die vergessen lassen, was in deutschen Supermärkten unter gleichem Namen angeboten wird. Feigenbäume und Granatäpfel säumen sandige Landwege. Hier und da knarren Wasserräder. Um kein fruchtbares Land zu vergeuden, wurden die Dörfer auf karstigen Höhenzügen angelegt, die sich wie Tafelberge aus der Ebene erheben.

Auf Gozo bei Gharb: Tomatenfeld an der San-Dimitri-Kapelle
Bei Gharb: Tomatenfeld an der San-Dimitri-Kapelle

Wie ein Piratennest klebt die Gleneagles Bar am Hang von Magarr oberhalb der Fähren nach Malta. Auf ihrem schmalen Balkon drängen sich ein paar wackelige Stühle und Tische. Die meisten Gäste stehen, ein Pint Bier in der Hand. Laut dringt das Hafentreiben hinauf.

Laster rollen auf die Fähre, die rund um die Uhr zwischen Mgarr auf Gozo und dem maltesischen Cirkewwa pendelt. Bunte Fischerboote, „Luzus“ in Blau, Gelb, Rot mit einem Auge am Bug tanzen auf den Wellen. Dicht an dicht hängen die Trauben an den Weinstöcken, die die neogotische Kirche „Our Lady of Lourdes“ hoch am Hang umgeben.

Auf dem höchsten Hügel leuchtet Victoria im letzten Abendlicht. Die Hauptstadt Gozos erhielt erst 1897 anlässlich des 50-jährigen Thonjubiläums der britischen Königin Victoria ihren heutigen Namen, doch das Volk blieb dem alten arabischen Namen treu: Ir-Rabat. Die 6.000-Einwohner-Stadt ist der wirtschaftliche und kulturelle Mittelpunkt der Insel.

Sonnenuntergang vor der Zitadelle von Victoria auf Malta
Sonnenuntergang hinter der Zitadelle von Victoria

Hier laufen sämtliche Buslinien zusammen, gehen die Insulaner zum Arzt oder Amt und treffen auf dem Stadtplatz It-Tokk zum Plausch. Unter den schattigen Bäumen haben Souvenirhändler die Marktstände nahezu vertrieben. In den Straßencafés sitzen die Männer beim Bier, in den Hauseingängen hocken die Frauen und klöppeln – Spitzen für Kopfkissen, Bettbezüge, Blusen, Hemden, Decken. Die schönsten Arbeiten zeigt das Crafts Centre in der Zitadelle mit seiner Dauerausstellung zum gozitanischen Handwerk: Silber, Strick, Keramik, Glas.

Die engen, hohen Gassen der Oberstadt sind angenehm kühl. Zielstrebig schreitet Ruben voran. Sein Ziel: das Lokal Ta’ Rikardu in der Judengasse. Urlauber und Einheimische sitzen an rustikalen Holztischen zusammen und stärken sich mit einer zünftigen gozitanischen Brotzeit: deftiges Bauernbrot, eingelegte Tomaten, würzige Oliven, frische Kapern und Gbejna moxxi, ein kräftiger Weißkäse aus Ziegen- und Schafsmilch, der in schwarzem Pfeffer gewendet wurde. In dunklen Tonkrügen wird Wein serviert. „Auch aus Gozo“, wirft Ruben stolz ein, „hiesige Merlot-Trauben, hier gekeltert, hier genossen …“

Um 14 Uhr werden die Gäste höflich zum Gehen aufgefordert, die Stühle hochgestellt und die Holzläden vor die Fenster geklappt. Siesta. Die Stadt ruht; Ruben strotzt vor Unternehmungsgeist. Erst hinauf zur Zitadelle, dann ans Meer. Das Innere des Festungsringes liegt als Trümmerfeld brach. Hinauf zu den Bastionen führen Steintreppen, die eher Klettersteige als Stufen sind. Die Sonne sticht vom Himmel, die Steine glühen vor Hitze.

Doch die Aussicht beim Rundgang auf der Wehrmauer entschädigt für die Mühen: Im Norden thronen die hellen Häuser von Zebbug und Xaghra auf den Hügeln, gen Süden dominiert die gewaltige Rundkirche der St. Johannes-Basilika von Ix-Xewkija, die die örtliche Gemeinde 1951-1971 zumeist in Eigenarbeit aus Spenden errichtete. Das Engagement der Gläubigen kannte keine Grenzen – mit 75 Meter Höhe besitzt das gozitanische Dorf Europas drittgrößtes Gotteshaus.

Die Bucht von Xlendi auf Gozo
Die Bucht von Xlendi auf Gozo

Für eine Handvoll Cents ruckelt ein uralter, quietschgelber, lautstarken und knochenhart gefederten britischen Bedford-Bus nach Xlendi. Die offene Tür bringt Fahrtwind zu den Passagieren, beschwingt fährt der Busfahrer zum Takt der Beats aus dem Transistorradio. Am Rückspiegel baumelt ein Kreuz mit einem kleinen Heiligenbild. Ave Maria.

Halsbrecherisch geht es um die Kurven. Dann öffnet sich der Blick auf den Fischerort, der sich in einer langen, engen Fjord-Bucht drängt. Am Südufer sonnen sich Badegäste auf Betonplattformen, die in die steilen Klippen gegossen wurden. Am Nordrand erkunden Schnorchler die Unterwasserwelt im azurfarbenen Badewasser.

Mit ihren Höhlen, Grotten, Steilhängen und Riffen gehören die Gewässer rund um Gozo zu den besten Tauchplätzen des Mittelmeeres. Knurrhähne, Seebarben, Tintenfische, Meeraale und der seltene Meeresbarsch, der sonst im Mittelmeer verschwunden ist, leben in den bis zu 23 Grad warmen Fluten.

Die Bucht von Xlendi auf Gozo
Die Bucht von Xlendi auf Gozo

Manoel packt seine Angelrute ein und macht seinen Motorsegler „Barbarossa“ startklar zum Sunset Cruise. Seit mehr als 20 Jahren schippert er bei ruhiger See im Sommer mit einem Dutzend Gäste in zwei Stunden einmal rund um Gozo: Spektakuläre Küste zu Käse, Wein und Obst an Deck.

Erstes Ziel sind die Wahrzeichen der Westküste: der pilzförmige Felsen Fungus Rock und das Azure Window, ein imposanter Kalksteinbogen. Im Licht der Sonne leuchten die Steilklippen von Ocker bis Rot. An der Nordküste glitzern Salzpfannen in den goldenen Felsen des Riffs. In der Ferne gleitet Marsalforn vorbei, der größte Ferienort auf Gozo.

Gozo: Ramla Bay
Die Ramla Bay

Dann kommt sie in den Blick: Ramla Bay. Gozos berühmteste Bucht ist bis heute so wenig kommerzialisiert wie zur Antike: ein goldgelber Bogen, eingerahmt von Felsen und ein paar Bambushütten, die Eis und andere Snacks verkaufen. Ein verwittertes Holzschild weist den Weg zu einem mystischen Ort, der den Strand zur Legende machte: der Höhle der Kalypso.

Die schöne Tochter des Titanen Atlas hatte hier Odysseus, als Schiffbrüchiger an den Strand geschwemmt, gesund gepflegt – und sich in ihn verliebt. Odysseus jedoch sehnte sich nach seiner Gattin Penelope. Sieben Jahre lang dauerte die ungleiche Romanze, erst dann hatte Zeus ein Nachsehen und ließ Odysseus nach Ithaka heimkehren.

Heute verengen gestürzte Felsbrocken den Eingang zur Grotte oberhalb der Bucht, in die kein Tageslicht fällt. Ein findiger Bauer hat aus der Not der Besucher ein Geschäft gemacht: Neben allerlei Obst und Gemüse verkauft der alte Mann auch Kerzen – schon Willy Brandt habe sich bei ihm eingedeckt, erzählt er stolz.

Dwejra: die Inland Sea von Gozo
Dwejra: die Inland Sea
Die Bucht von Xlendi auf Gozo
Die Bucht von Xlendi auf Gozo

Dieser Beitrag ist leicht gekürzt am 18. August 2004 auf Spiegel Online erschienen. 

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