Ohne Bootsführerschein schippern wir durch Seen, Kanäle und Flüsse so breit wie das Meer. Unser Revier: der Shannon und der Erne. Der eine in der Republik Irland, der andere in Nordirland. Gemeinsam locken die beiden irischen Flusssysteme zu grenzenlosen Hausbootferien: Auf Europas größtem Revier für Freizeitkapitäne sind die Grenzen zwischen in wahrstem Sinne fließend.
Bootsparade am Erne
Belturbet. Eine Kleinstadt nahe der Grenze. Nordirland ist nur wenige Kilometer entfernt. Euro und Pfund sind gleichberechtigt. Viele Bürger arbeiten im Norden – und leben im Süden. „We’re all Irish“, sagt Damian im Seven Horsehoe Pub, und weist den Weg zur Marina, die dank finanzieller Hilfe der EU das Ufer des Erne säumt. Breite hölzerne Wohnboote („narrow boats“), Lastkähne („barges“), französische „Pénichettes“ und schnittige Kabinenkreuzer liegen am Kai.
Am Steg von Emerald Waterways macht Michael Kolbohm (49) die Gäste-Crew mit dem Boot vertraut. 35 Positionen umfasst seine „Bording Trial Run Card“, seine Checkliste für die Einweisung. 30 Minuten lang weist der Techniker auf Knöpfe, Schalter und Verschlüsse, verrät, wie Gas, Wasser und Diesel aufgefüllt werden, holt Notfallflagge und Telefon hervor, kontrolliert, ob Betten und Bad sauber sind. Nach einer Testfahrt heißt es: Leinen los – nach Iniscorkish.
Kleine Inseln im großen See
Auf der kleinen Insel, seit gut 300 Jahren von der Familie Reihill bewohnt, servieren Sheila und John Reihill deftige Hausmannskost. Ihr Restaurant: ein großer Raum mit einfachen Holztischen, Stühlen und Bänken; angebaut an das Wohnhaus. Ihre Speisekarte: der Inhalt des Kühlschranks in der Küche. Während Sheila am Herd steht, zapft John Glas um Glas Guinness. Gefallen ihm die Gäste, holt der exzentrische Kauz die Fiedel hervor, und verliert sich beim Spiel in seinen Erinnerungen. „Stop now“, sagt Sheila, die sich eine Schürze zum Servieren umgebunden hat, „Dinner is ready.“
Zur Nacht können an Bord bis zu sechs Betten gerichtet werden: In Bug und Heck sind Doppelbetten fest eingebaut, im „Salon“ bildet die Sitzgarnitur in zwei Einzelbetten. Ungewohnte Geräusche stören den Schlaf. Was bewegt sich da – haben sich die Leinen gelöst? Friedlich liegt das Boot am kleinen Kai. Das fahle Mondlicht spiegelt sich im dunklen See. Alles ist still, so still, dass man die Stille zu hören meint.
Sportfischen beim Schippern
Am zweiten Tag hat sich der Rhythmus an Bord eingespielt, sorgt die Langsamkeit des gemächlichen Gleitens für Entspannung. Backbord hängt eine Angel im Wasser. Irland gilt weltweit als eine der besten Destinationen zum Sportfischen. Da es außer für Lachs und Forellen keine Schonzeiten gibt, wird das ganze Jahr nach Aal, Barsch, Schleie, Plötze und Brassen geangelt. Anschließend landen die Fische nicht in der Pfanne, sondern wieder im See – das ist Vorschrift.
Nächstes Tagesziel ist Enniskillen. Die Pier liegt direkt an der Watergate, einer trutzigen Burg aus dem 15. Jahrhundert, die Handel und Schifffahrt auf dem Erne bewachte. Im einstigen Buttermarket haben sich Künstler niedergelassen und verkaufen Ölgemälde, Keramik und Holzteller. Am Nachmittag kommen die Räder zum Einsatz, die am Heck an der Reling hängen. Rund 20 Kilometer entfernt lockt die Höhlenwelt der Marble Arch Caves mit Flüssen und Wasserfällen.
Malerische Kanal-Passage
Der Wetterbericht macht die Weiterfahrt nach Norden zunichte: Stürmische Winde und kabbelige See auf dem Lower Lough Erne. Um das zu meistern, fehlt dem Kabinenkreuzer die Kraft. So führt die Fahrt nach Süden, hin zum Shannon Erne Waterway. Die Restaurierung und Wiedereröffnung des alten Verbindungsweges zwischen den beiden größten Wasserwegen Irlands kreierte 1994 Europas größtes Inland-Revier für Freizeitkapitäne. Es erstreckt sich auf 750 Kilometern zwischen dem nordirischen Töpferstädchen Belleek in County Fermanagh bis nach Killaloe an der Mündung des Shannon in County Clare.
14 Stunden reine Fahrzeit auf dem Kanal mit dem Kreuzknoten als Wegzeichen weist die Travel Chart im Captain’s Handbook aus. Nicht mitgerechnet: das Meistern der 16 Schleusen. Sämtliche Schleusen werden elektronisch überwacht und mit einer Smart Card bedient. Die Chipkarte öffnet nicht nur die Schleusentore, sondern auch Türen der Servicehäuschen mit Waschmaschine, Trockner und Dusche.
Die Kunst des Schleusens
Zwischen beiden Schleusentoren zeigt eine Steuereinheit Schritt für Schritt, was zu tun ist: Bei Fehlern reagiert sie nicht, für Notfälle gibt es Sprechfunk – und den Schleusenwärter, der geistesgegenwärtig das Not-Aus drückt: Beim ablaufenden Wasser hat sich der Kabinenkreuzer mit seiner gummigeschützten Bugspitze am Kai aufgehängt und schwebt zwischen beiden Schleusenwänden.
„Die erste Schleuse?“ fragt Joe John McCaffrey, schiebt seine Tweed-Mütze in die Stirn und zeigt auf zwei gelbe Linien an den Natursteinmauern. „Zwischen diesen „danger lines“ muss das Boot beim Schleusen liegen.“ Der 50-jährige Ire ist Experte – er überprüft und wartet täglich die ersten acht Schleusen zwischen Corraquill und Lough Scur, dem höchstgelegenen See des Waterways. Von dort führt die Fahrt durch acht Schleusen in einer regelrechten Wassertreppe hinunter zum Shannon
Der längste Fluss des Königreiches
Der längste Fluss Großbritanniens und Irlands entspringt als kleines Rinnsal im Shannon Pot, einem kreisrunden Teich am Abhang des Cuilcagh Mountain in der Grafschaft Cavan. Als kleiner Bach erreicht er Lough Allen, den höchstgelegenen der 15 schiffbaren Seen der Shannon-Region. In Carrick-on-Shannon ist er bereits ein ansehnlicher Strom. Am Anleger sind alle Plätze belegt. Am Wochenende herrscht auf dem Shannon den ganzen Tag „rush hour“ im Vergleich zur idyllischen Ruhe des Erne. Auf dem Shannon bedeutet Hausbooturlaub „big business; ganze Ortschaften, Lokale und Ausflugsziele leben von den Bootstouristen.
Klosterruinen im satten Grün
Hinter Lough Ree wird die Landschaft flach. Kühe grasen am Wasser, Schwäne begleiten das Boot. Plötzlich ragen zwei schlanke, steinerne Rundtürme zwischen den Wiesen auf, dann eine Kapelle und die Ruine einer Burg: Clonmacnoise. Die frühchristliche Klosteranlage, um 545 nach Christus errichtet, gehört zu den meist besuchten Sehenswürdigkeiten der Shannon-Region.
Vom Wiesenhügel sind südlich die 16 Bögen der Shannonbridge zu erkennen, gen Norden grüßt die Burg von Athlone. An der Pier im Schatten ihrer meterdicken Festungsmauern wird das Boot zum letzten Mal vertäut. In der größten Stadt am Shannon endet die Tour auf typisch irische Art: mit einem Guinness in Sean’s Bar, dem ältesten Pub von Irland. Sláinte – Prost!
Dieser Beitrag ist im Rheinischen Merkur, auf Spiegel Online sowie im Onlinemagazin schwarzaufweiss.de erschienen.