Geographisch liegen sie auf der gleichen Höhe wie der Südzipfel Alaskas: die nordfriesischen Inseln und Halligen – 15 Kleinode im Wattenmeer, das seit Juni 2009 zum Weltnaturerbe gehört.
Wie auf Noldes Nordseebildern spannt sich der hohe Himmel über die schier endlose Ebene. Auf dem harten Sandwatt kitzeln schlanke Spaghetti aus Sand die Fußsohle, Ausscheidungen der Wattwürmer. Dann verwandeln kleine Rippen das Watt in ein Waschbrett, spiegeln sich Wolkenberge in der weiten Fläche, tanzt die Sonne in tausend Strahlen in Wasserlöchern und Rinnsalen. Still ist es.
Um neun Uhr früh ist Wattführer Reinhard Boysens mit seiner kleinen Gruppe von Dunsum auf Föhr gestartet, den Seedeich hinab zum Strand gelaufen und ein Stunde lang stramm marschiert. Jetzt stehen sie vor verwitterten Spanten, die 20 Zentimeter hoch aus dem Watt ragen und die Umrisse eines großes Schiffes nachzeichnen.
„Das war mal die ‚City of Bedfort’ “, sagt Boyens, „ein Salpeterfrachter aus England. 1825 ist er auf seinem Weg ins dänische Esbjerg vor Amrum gestrandet, die achtköpfige Besatzung ertrunken.“ Unzählige Sandbänke machen bis heute die Seefahrt bei Amrum zum heiklen Unterfangen, mehr als 400 Schiffe sind vor der Insel im Laufe gestrandet.
Nicht immer aus Kapitänsversagen – oft halfen die Insulaner nach. Mit falschen Leuchtfeuern lenkten sie die Schiffe in den weiten Kniepsand. Erst 1875 beendete der Bau des mit 63 m höchsten Leuchtturms der deutschen Nordseeküste das einträgliche Geschäft der Amrumer.
Viele Generationen lang hatten sie beim „Strandlaufen“ angeschwemmte Fundstücke vor den staatlichen Strandvögten „in Sicherheit“ gebracht. Doch auch heute sorgt der Kniepsand für gut gefüllte Kassen auf Amrum: Fast elf Kilometer lang und bis zu 1,5km lang, ist Europas größte Sandkiste die Attraktion der Insel. Genährt wird der Strand vom Nachbarn im Norden: Sylt.
Während Deutschlands beliebteste Urlaubsinsel alljährlich mit Millionen Euro gegen das stete Schrumpfen im Süden anbaggert, lässt die Nordsee Amrum kostenlos weiter wachsen. Schon jetzt nimmt der berühmte Inselstrand fast die Hälfte der Fläche ein. Den Rest teilen sich fünf Inseldörfer, Pferdekoppeln und Weizenfelder, Dünenheiden und der mit 200 Hektar größte Wald einer Nordseeinsel. Mitten hindurch führt der Radweg nach Norddorf.
Dort hat „Mr. Nordsee“ die Leinwand aufgebaut: Georg Quedens. Seit 1734 lebt seine Familie auf der Insel, seit Jahrzehnten unterhält der weit über 70-Jährige mit Inseldönekes und Strandräuberpistolen die Urlauber, die auf Amrum immer noch Badegäste – und nicht Touristen – heißen.
Bei seinen Vorträgen erzählt er nicht, sondern schnarrt und schnaubt, flüstert und dröhnt, kneift die kleinen Augen zusammen, zwirbelt den weißen Bart und beweist „Nordsee ist Mordsee“, zerstört – und erschafft: so auch die heute nur noch zehn Halligen, entstanden nach den beiden „Groten Mandränken“ von 1362 und 1634 aus aufgehäuftem Schlick.
„Schwimmende Träume“ nannte Friesendichter Theodor Storm die Mini-Eilande, die noch heute mehrmals im Jahr beim Land Unter „blank laufen“ und überflutet werden – dann erheben sich nur ihre Gras bewachsene Hügel – die Warften – aus der Weite des Meeres. Im „Sturmflutkino“ von Hallig Hooge wird das Naturspektakel für 20 Minuten Wirklichkeit.
Dieser Beitrag ist in Ausgabe 27/2010 im Insel-Special des Rheinischen Merkur erschienen.
Die nordfriesische Insel Amrum und die Halligen habe ich im DuMont-Bildatlas „Sylt-Amrum-Föhr“, dem Baedeker „Deutsche Nordseeküste“ und im Rahmen von Veröffentlichungen für die „Fahrtziel Natur“-Kampagne der Deutschen Bahn ausführlich vorgestellt.