„Man muss sich vom Schuss überraschen lassen“, sagt Josef Obererlacher. Der 40-jährige Biathlet, der mit seinem Bruder Hannes vier Olympische Winterspiele und sieben Weltcups für Österreich bestritt, gibt heute in Obertilliach in den Osttiroler Alpen interessierten Touristen Schützenhilfe.
Ski und Beine seitlich gespreizt, liegt Ingrid Scholz (37) auf der grauen Gummimatte im Schnee. In ihrer Hand ruht die Waffe, mit der Hannes Obererlacher seine letzten sieben Jahre im Biathlon-Weltcup gelaufen ist: ein 4,2 Kilo schweres Sportgewehr mit einem Schaft von H. G. Larsen aus Norwegen, Kaliber 22. Die Munition: Long-Rifle-Bleigeschosse mit Messinghülse, die bei einer Reichweite von 1,5 Kilometer auf 300 Meter tödlich, auf 150 Meter Distanz zielgenau sind.
Die Zielscheiben hängen 50 Meter entfernt: fünf schwarze Kreise in Reih und Glied, elf Zentimeter groß beim Stehend-Schießen, 4,5 Zentimeter im Liegen. Im Schnupperkurs wird auch im Liegen auf die größeren Scheiben angelegt. Bei der erste Runde stützt ein grüner Sandsack das Gewehr. Ingrid legt den Finger an den Abzug, fixiert über Kimme und Korn das Ziel und drückt ab. Das Geschoss klappt die schwarze Schablone nach hinten: Treffer! Beim nächsten Schuss erkennt Josef schon am Klang, wie weit die Patrone die Zielscheibe verfehlt hat – „ein Zentimeter, mehr fehlte nicht“.
In der zweiten Runde – ohne Sandsack – lässt das Gewicht des Gewehres die Hand zittern; im Stehen schwankt die Waffe wie ein Blatt im Wind. Der abgewinkelte Arm auf der vorgeschobenen Hüfte hilft nur wenig als Stütze. Mit angehaltenem Atem drückt Ingrid ab. Einer Schuss der Fünfer-Serie ist ein Treffer. „Jetzt stellt Dir das Ganze unter Belastung vor – mit rasendem Puls um die 200 Schläge pro Minute, die Du runterdrücken musst auf 160, 165, und der Konkurrenz im Nacken…“ Ingrid nickt, schaut nach links.
In hohem Tempo skaten zwei Biathletinnen der australischen Bundesheeres zu den Schießständen, bremsen, zielen im Stehen: fünf Schuss, fünf Treffer. Per Fernrohr beurteilt ihr Trainer die Ergebnisse. Dann kommen Weißrussen mit knallengen Outfits in Landesfarben, schießen und entschwinden wieder auf der Loipe. Aus dem Augenwickel beobachten die Gäste die Sportler: Bahn an Bahn mit den besten Biathleten der Welt, das beflügelt. Ricco Groß aus Ruhpolding bereitet sich hier auf die nächsten Weltcup-Wettbewerbe vor. Norwegens Biathlon-König Ole Einar Bjørndalen lebt bereits in Obertilliach und schwärmt von den idealen Trainingsmöglichkeiten: Die Höhenlage von 1.450 Meter entspricht den Bedingung wie zu den Winterspielen in Turin 2006, der Schnee fällt früh und reichlich.
Bereits Mitte November 2004 wurden die Loipen nach 40 Zentimeter Neuschnee offiziell eröffnet. Nationalteams aus Österreich, Deutschland, Korea, Litauen und Polen, die in Skandinavien keine guten Verhältnisse vorgefunden hatten, verlegten daher kurzfristig ihr Training nach Obertilliach, erzählt Josef Obererlacher und erinnert Rentner Hans Gretener (75), der ebenfalls für acht Euro das Biathlon-Schnuppern gebucht hat: „Repetieren! Du musst auch laden!“
Konsequent, so Obererlacher weiter, baue das 800 Einwohner-Dorf, in dem noch Österreichs letzter Nachtwächter, Hans Egartner, seine mitternächtliche Runde dreht und morgens um sechs der Hahn mit der Kirchenuhr konkurriert, seine Kompetenz als Biathlon- und Langlaufzentrum aus. Zum 2003 erbauten Schießstand mit 30 beleuchteten Bahnen gesellte sich im September 2004 eine gut vier Kilometer lange Skirollerstrecke für das Sommertraining der Top-Athleten, zum Winter 2005/6 soll direkt ein Servicezentrum samt Restaurant die Anlage ergänzen.
Die Investitionen von rund zwei Millionen Euro teilten sich das Land Tirol, die Gemeinden Obertilliach, Untertilliach, und Kartisch, der Tourismusverband Hochpustertal sowie zwei Dutzend Betriebe aus Obertilliach. Sechs Meter Gefälle und ein Tunnel verbinden den Biathlon-Stützpunkt mit der fünf Kilometer langen, beschneibaren Wettkampfloipe und der 60 Kilometer langen Grenzlandloipe, einer leicht bis mittelschweren Panoramastrecke durch das Lesachtal und über die Landesgrenze hinweg bis ins kärtnerische Maria Luggau. Im Talgrund plätschert die Gail, hohe Schneehauben bedecken die Heuhütten.
Über tief verschneiten Wiesen und Weiden erhebt sich ein dichter Tannenwald, bekrönt von den Bergspitzen des Karnischen Kamms. Hell verputzt, mit wettergegerbtem Holz verkleidet, ducken sich die Höfe und Häuser von Obertilliach um die Pfarrkirche. Eine Zweiersesselbahn schwingt sich zum Skigebiet Golzentipp (1.450 – 2.250 Meter) hinauf. An seinen flachen Ausläufern lernt der Nachwuchs mit Pinguin Bobo die ersten Schwünge. Beim “Weiler“ drängen sich am Nachmittag Ski und Stöcke im Ständer – die Hotelterrasse zwischen Piste und Loipe ist zentraler Treff für die Kaffeestunde im Sonnenschein.
Abends lockt der Unterwöger mit Schlipfkrapfen, die als nudelumhüllter Kartoffelbrei in Butter baden, und einem hochprozentigen „Pregler“ aus Äpfeln und Birnen als „Verdauungsshilfe“. Doch noch leuchtet die Sonne über den glitzernden Schnee, lockt seit diesem Winter ein geradezu grenzenloses Langlauferlebnis: „Dolomiti Nordic Ski“. Unter Federführung der Tourismusverbandes Hochpustertal haben sich acht Regionen in Ost- und Südtirol zum größten Langlaufgebiet Europas zusammen geschlossen – und Obertilliach liegt als „Area 05“ mitten im 900 Kilometer großen Loipenverbund.
Obertilliach: Info
In Deutschland erteilt Auskünfte über Biathlon-Schnuppern in Obertilliach: Urlaubsservice der Österreich Werbung, Tel. 01802/10 18 18 (Ortstarif), Fax 01802/10 18 19, E-Mail: urlaub@austria.info, Internet: www.austria.info/de. Weitere Informationen gibt es beim Tourismusbüro Ober-Untertilliach, Dorf 4, A – 9942 Obertilliach, Tel. 0043/4847/52 55, Fax 0043/48 47/52 55-11, E-Mail: info@obertilliach.at, Internet: www.tiscover.at/obertilliach, www.biathlon-obertilliach.com
Dieser Beitrag wurde am 15. Februar 2005 vom gms-Themendienst der dpa verbreitet und von zahlreichen deutschsprachigen Medien abgedruck, so am 19. Februar 2005 von der Dithmarscher Landeszeitung.