Wie ein zerzauster Schmetterling erstreckte sich Pommern einst auf preußischen Schulkarten, bunt und vielgestaltig. Nach dem Zweiten Weltkrieg glich das Land einem einzigen Trümmerfeld, verließen mehr als drei Millionen Menschen ihre Heimat. Heute führt die Fahrt entlang der Ostseeküste in ein neues Land: Pomorze. Geblieben ist nur eines: die sanft gewellte Landschaft mit alten Alleen, weißen Sandstränden und wuchtigen Backsteinkirchen, die von Ferne den Reisenden grüßen.
“Maikäfer flieg, dein Vater ist im Krieg, deine Mutter ist in Pommerland, Pommerland ist abgebrannt…” – im Dreißigjährigen Krieg ebenso wie im Zweiten Weltkrieg. 1945 waren die meisten großen und viele der kleinen pommerschen Städte zerstört. Manche zu 90 Prozent – wie Kołobrzeg/Kolberg, manche zu 60 Prozent – wie Szczecin/Stettin. Große Teile der Felder waren vermint, viele Wiesen versauert.
Die Neusiedler schrieben zwar trutzig ihr “Wir waren hier, wir sind hier, wir werden hier bleiben” an die Häuserwände, doch der Wiederaufbau setzte nur zögernd ein. “Zum einen gab es für Polens Volkswirtschaft und Selbstverständnis wichtigere Gründe – wie den Aufbau Warschaus –, zum anderen herrschte, trotz aller markigen Worte, Unsicherheit, ob dieses Land bei Polen verbleiben würde”, berichtete Klaus Bednarz 1980 als Rundfunkkommentator aus der Volksrepublik.
Seit Herbst 1991, der Ratifizierung des deutsch-polnischen Vertrages und somit offiziellen Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, sind die Zweifel verflogen und uneingeschränkte Reisen zwischen Oder und Weichsel möglich geworden. Und dennoch: Nach der erste Euphorie der offene Grenzen bleiben die Urlauberströme aus. Angst, Unwissenheit und Unsicherheit verhindern Eindrücke und Entdeckungen, die ihresgleichen suchen.
In knapp einer Stunde ist der Grenzübergang Pomellen/Kołbaskowo passiert, geht es auf einer gut ausgebauten Autobahn vorbei an den Fahrzeugen der Schwarzhändler, völlig vergraben unter “Marlboro”- und “Camel Filter”, in rascher Fahrt nach Szczecin/Stettin. Dichter Nebel steigt aus der Odra/Oder auf, umhüllt die alte Hansestadt, lässt die Narben des Krieges und die Sünden des Sozialismus im Dunkeln. Die historischen Bauten wirken, isoliert im grellen Licht der Scheinwerfer, umso beeindruckender.
Sie sind die „Sterne“ Stettins, seit den 1970er-Jahren akribisch genau nach alten Zeichnungen und Grundrissen rekonstruiert: Das Pommernschloss hoch oberhalb der Oder, in dessen Gruftgewölbe die Gebeine der pommerschen Herzöge ruhen, und die Jakobikirche, seit 1972 Bischofssitz. In dem wuchtigen Gotteshaus mit seiner sechs Tonnen schweren Glocke wirkte der Komponist Carl Loewe viele Jahre als Organist.
Ein lohnenswerter Abstecher führt ins nahe Stargard Szcz./Stargard, das eine fast vollständig erhaltene Ringmauer aus dem 13. Jahrhundert umschließt. Über einem Seitenarm der Ina/Ihna, im Mittelalter Trink- und Löschwasserreservoir, erhebt sich das Mlynska (Mühlen)-Tor, das letzte erhaltene Wassertor und zugleich die einzige zweitürmige Toranlage in Pommern.
Durch den großen gemauerten gotischen Bogen, heute verdeckt, brachten einst Kaufleute mit kleinen Boote ihre Ware in den geschützten Hafen. Unweit des Rynek, des heutigen Marktplatzes, werden statt Salz und Seide nun westliche Prestigegüter verkauft: Lacoste-Hemden aus Korea, Rolexuhren aus Hongkong, Gebrauchtwagen aus deutschen Landen.
Händler und Käufer gönnen dem städtebaulichen Kleinod zwischen Kaufhalle und kaputtem Wohnsilo keinen Blick: Der eigenwillig prunkvolle Westgiebel des Rathauses, die idyllischen Laubengänge der Alten Wache und die massive gotische Marienkirche bilden seit alters her die vertraute Kulisse.
524 Kilometer mißt die heutige Küstenlinie Polens. Vor dem Krieg war Polens Zugang zum Meer auf 28 Kilometer zwischen Gdynia/Gdingen und Gdansk/Danzig beschränkt. Der Weg zum “Morze Baltyckie”, zum Baltischen Meer, führt durch eine sanft gewellte Endmoränenlandschaft nach Koszalin/Köslin.
Die alte Handelsstadt, heute Wirtschafts- und Verwaltungszentrum Mittelpommerns, liegt buchstäblich auf dem Trockenen – ihr Hafen verlandete vor fast 300 Jahren. Eine braune Knolle, vom Alten Fritz nach Pommern gebracht, bestimmte stattdessen das Wohlergehen der “Kartoffelwojewodschaft” Köslin.
Bei Bisiekierz/Biziker wurde der “Tüffel” ein Denkmal gesetzt: Fast einen Meter groß, ruht der runzlige Erdapfel auf einem grünen Spaten. Heute setzt Koszalin auf Fortschritt durch Forschung, gründete 1968 eine Technische Universität und entwickelte sich stetig zum dritten Elektronikstandort Polens.
Eine Kastanienallee führt nach Kołobrzeg/Kolberg. Der Obelisk am Strand, geschaffen von Wiktor Tolkin, erinnert daran, dass die Kämpfe des Zweiten Weltkrieges in der Stadt an der Parseta/Persante besonders heftig wüteten. Noch im März 1945 hatte Hitler versucht, den Mythos der ehemals uneinnehmbaren Festung Kolberg für sich zu nutzen.
Zehn Tage lang dauerte der ungleiche Kampf, ehe polnische Truppen am 18. März die Ostsee erreichten. Innerhalb einer Woche schafften sie es, die bis dahin kaum zerstörte Stadt dem Erdboden gleichzumachen. Die neue polnische Stadtverwaltung musste sich zunächst in einer 30 Kilometer entfernten Gemeinde einrichten, da in der Trümmerwüste keine Räume zu finden waren.
Zu den ersten Gebäuden, die in Kolobrzeg – wie überall im einstigen deutschen – instandgesetzt wurden, gehörten die Kirchen, und gaben den nun katholischen Gläubigen ein erstes Dach über dem Kopf. Wohnraum, zunächst kaum renoviert, entstand erst Mitte der 1970er-Jahre in größerem Umfang: monotone Massensiedlungen, Plattenbaughettos im Herzen der Stadt.
Nicht nur ein Kolberger Kontrast: Neben einer Bettenburg aus Beton erhebt sich der fünfschiffige Mariendom aus dem 13. Jahrhundert. Ein Kleinod machte den wuchtigen Backsteinbau berühmt: die „Schlieffenkrone” (1523), ein kunstvoll geschnitzter Kronleuchter aus Lindenholz, aus dessen zentralen Strahlenkranz eine Madonna milde herabblickt. Gestiftet wurde das Juwel von der reichen Patrizierfamilie Schlieffen, deren Haus in der Ulica Gierzak 5 als eines der wenigen Gebäuden die Feuersbrunst des Krieges überdauerte.
Kurz vor Słupsk/Stolp setzt leichter Nieselregen ein. Auf dem Siegesplatz, dem alten Marktplatz der Hansestadt an der Slupia, flüchten junge Mädchen lachend in die englische Telephone Booth rechts vom Rathauseingang. Ihr leuchtendes Rot ist ein willkommener Farbfleck im grauen Einerlei des modern aufgebauten Zentrums. Unweit hiervon schmücken Gründerzeit-Fassaden den mehrspurigen Altstadtring, erinnern die gotische Marienkirche (14. Jahrhundert), das mittelalterliche Mühlentor sowie das Herzogsschloss, heute Regionalmuseum Ostpommerns, daran, das Stolp einst als eleganteste Stadt Hinterpommerns galt.
Noch mondäner allerdings wirkt noch heute Sopot/Zoppot. Ein Hauch Thomas Manns schwebt über den Jugendstilvillen der Stadt, das prunkvolle Kurhaus weckt „Zauberberg“-Gefühle. Wer etwas auf sich hält, steigt im „Grand-Hotel“ ab – seit 1926. Am Abend lockt dort das Casino, im nahen Park die „Opera Lesna“. In der 1909 errichteten Waldoper erleben jährlich bis zu 5000 Besucher, geschützt unter dem Plastikdach, Ende August das internationale Liederfestival.
Immer ein Muss: der Bummel auf der strahlend weißen „Mola“, mit 512 Metern nicht nur eine der längsten Seebrücken Europas, sondern auch eine der schönsten. Doch: Auch an Polens exklusivstem Seebad ging die Zeit nicht spurlos vorüber. Der Glanz von einst beginnt angesichts gravierender Umweltprobleme zu verblassen.
„Was nützt der schönste Sandstrand, wenn die Industrien der Nachbarstädte Gdynia und Gdansk das Meer verseuchen?“ fragte Anfang der 1980er-Jahre erschreckt die polnische Presse, als erstmals Badeverbot ausgesprochen werden musste. „Kapiel zabroniona“ steht seitdem geschrieben, und ein durchgestrichener Schwimmer im roten Kreis macht das Schild auch für Analphabeten und Sprachunkundige verständlich.
Ähnliche Tafeln zieren nicht nur die gesamte Danziger Bucht, sondern auch die Strände der Bernsteinküste, die sich weiter östlich erstrecken. Der „Jantar (Bernstein)-Express“”, eine gemütliche Schmalspurbahn, bringt seit mehr als fünfzig Jahren Ausflügler aus der Dreistadt („Tromiasto“) Gdynia-Sopot-Gdansk via Nowy Dwor sommers wie winters auf die Frische Nehrung (Zalew Wislany).
Einige steigen bereits in Sztutowo/Stutthof aus. Dort, wo die Ordensritter der Danziger Komturei ihre Stuten züchteten, wurde am 2. September 1939 das erste Konzentrationslager in Polen angelegt. Mehr als 85.000 Menschen wurden hier bis zum 10. Mai 1945 zu Tode geschunden.
Zum Museumskomplex gehören Krematorium, Gaskammer und Lagerbaracken: Grauen inmitten einer Idylle. An der Seeseite ruhen die gelbgrünen Fischkutter im feinen Sand; ihre roten Wimpel flattern in der steifen Brise. Am Haff hingegen Ruhe, eine fast bleierne Stille, träge schnappt ein Graureiher nach kleinen Fischen.
Durch bewaldete Dünen, vorbei an ausgedehnten Blaubeerhainen und zerzausten Krüppelkiefern, führt die Asphaltstraße nach Krynica Morska. Städtebaulich heute nicht gerade eine Perle, war das damalige Kahlberg-Liep ein bekannter Kur- und Badeort in Pommern. Nicht nur seine Solquellen, sondern auch der „Kaiserhof“ wurden von den Bürgern des nahen Elblag(Elbing) gerne aufgesucht, die sonntags mit dem Ausflugsdampfer über das Haff dorthin kamen.
Die meisten von ihnen arbeiteten damals auf der Schichauschen Werft. 18.000 Beschäftige zählte im Januar 1945 der Betrieb, den Gottlieb Ferdinand Schichau 1837 gegründet hatte. Ein Jahr später, Mitte 1946, betrug die gesamte Einwohnerzahl Elbings nur knapp 12.000. Dazwischen lag ein Inferno.
Am 10. Februar 1945 marschierte die Rote Armee in die Stadt, die Ordensritter im Jahre 1237 als Sitz des Hochmeisters gegründet hatten. Bis zur Übergabe an Polen am 19. Mai 1945 tobten heftige Gefechte. 90 Prozent der Altstadt rund um die Nikolaikirche wurden zerstört; 70 Prozent der gründerzeitlichen Neustadt an der Heilige-Drei-König-Kirche.
1957 schrieb der kanadische Journalist Charles Wassermann: „Nur das mechanisch erzeugte Auge des Fotoapparates kann ohne Zaudern erblicken, was nach dem Zweiten Weltkrieg von der Hansestadt Elbing übriggeblieben ist.“ Die polnische Presse taufte die einst zweitgrößte Stadt Westpreußens kurzerhand um: „Pompeji,” und auch „Herculaneum”.
Dank einer Bürgerinitiative begann Mitte der 70er Jahre der Wiederaufbau. Auf den Grundmauern des altdeutschen Elbing entsteht eine neue polnische Stadt: Elblag – modern im Innern, kontrastreich nach außen: Fassaden von Fachwerk bis postmodern.
Im Miteinander Gegensätze zu überwinden, ist auch Ziel einer sozio-kulturellen Vereinigung. Seit Mai 1990 residiert sie als „Neue Deutsche Gesellschaft” in der Kantstraße 18/1. Mit Geldern aus dem Westen wird der Aufbau unterstützt. Das bedeutungsvolle Spendensymbol: ein Maikäfer.