Mit flinken Fingern sammelt Stephanie Berencz schimmelige, vertrocknete Beeren aus der reifen Traube und wirft sie in die Holzbutte, der in der ein Meter breiten Gasse zwischen den Furmint-Reben auf dem lehmigen Boden steht. In der Kühle des Morgens hat in Tokaj die Lese für den Traditionstropfen Aszú begonnen. Der goldene Likörwein ist das Markenzeichen des Weinviertels Tokaj-Hegyalja, seit Juni 2002 als UNESCO-Weltkulturerbe geschützt. Die Schönheit der ältesten Weinregion Ungarns erschließt die Tokaj-Weinstraße.
Die Aszú- oder Ausbruchslese ist der wichtigste, aber auch zeit- und arbeitsaufwendigste Teil der Weinlese. „Pro Tag können unsere Arbeiter jeweils nur sieben bis zehn Kilogramm Trockenbeeren handverlesen einzusammeln“, sagt Stephanie Berencz, Kellermeisterin bei Disznókö.
Das Weingut an den Ausläufern der Zempliner Berge hat sich als erstes und bislang einziges Weingut der Region bewusst für die Besucher geöffnet. Der Rundgang beginnt am „Gelben Weinhaus“. Hinter der klassizistischen Fassade des einstigen Presshauses verbirgt sich heute eines der besten Restaurants der Region: das Csárda, das regionale Spezialitäten auf der Terrasse und im historischen Innern serviert.
Vorbei an Jahrhunderte alten Trassen mit Pfahlweinstöcken geht es hinauf zu einem Hügel, bekrönt von einem weißen Pavillon. Weit reicht der Blick über die 150 Hektar Anbaufläche. Im Tale schimmert die Theiß, gen Osten markiert eine riesige Antenne den Kahlenberg, das 515 Meter hohe Herz der Weinregion Tokaj-Hegyalja.
Im Gras liegt ein schwarzgrauer Fels. „Dies ist unser Namensgeber „Disznókö“, der Schweinefelsen“, erzählt Andros, den Sommer über als deutschsprachiger Führer engagiert. “So mancher, dessen Wahrnehmung vom ein wenig getrübt war, habe bereits auf die vermeintliche Sau geschossen…”, fährt er fort und zeigt auf die Einschusslöcher.
Die Region lebt und liebt Legenden wie diese – ist doch der Tokajer angeblich der älteste Weinname der Welt. Und ein königlicher zugleich: Im Jahre 1703 hatte Fürst Ferenc Rákóczi II. dem französischen König Ludwig XIV. zahlreiche Flaschen von seinem Weingut geschenkt. Voller Lobes soll der Sonnenkönig gesagt haben: Vinum Regnum, Rex Vinorum (Wein der Könige, König der Weine).
Um dem Wein, im Sozialismus zum häufig gepanschten Devisenbringer verkommen, wieder zu Weltruhm zu verhelfen, schlossen sich 1995 die besten Tokajer Prädikats-Weingüter zur Vereinigung Tokaji Renaissance zusammen. Mit neuem Kapital – fast alle Güter sind in der Hand französischer, spanischer oder italienischer Gesellschaften – wird jetzt Masse, meist mit Klasse, produziert.
Tokajer nach dem arbeitsaufwendigen Originalrezept stellen nur noch wenige Kleinbetriebe her. Dabei werden die edelfaulen Trockenbeeren der Rebsorte Furmint per Hand ausgelesen und in gegärtem Most oder Grundwein zwölf bis 60 Stunden mazeriert. Nach der Maischestandzeit werden die mit Wein oder Most gefüllten Beeren gepresst, ohne die Kerne zu beschädigen, und der Saft abgelassen.
In Fässer gefüllt, reift der Wein mindestens vier Jahre in Tuff-Felsenkellern. Abhängig davon, wie viele Puttonyos, die mit Trockenbeeren gefüllten Holzbutten, auf ein 136-Liter-Fass Grundwein gegeben wurden, sind zwei- bis sechsbuttige Aszú im Handel. Je mehr „Puttonyos“ das Etikett der Flasche zieren, desto höher ist die Restsüße des Weines – und umso geringer der Alkoholgehalt.
Nur fünf bis sechs Prozent Alkoholgehalt enthält der Aszú-Escenzia, der reine, über mehrere Jahre vergorene Nektar der Beeren. „Von den Weinen der besten Jahrgänge bewahren wir stets ein paar hundert Flaschen Essenz für Sammler auf“, sagt Laszló Mészáros, seit 1995 Direktor von Disznókö.
Die guten, reifen Trauben des Furmint, die nicht von der Edelfäule des Botrytis-Pilz überzogen sind, werden zu fruchtig-frischem, trockenen Weißwein verarbeitet. Ungewöhnlich große, lindenblättrige Blätter sind das Erkennungszeichen vom Hárslevelü, einer ungarischen Rebsorte mit großen und lockeren Fruchttrauben, die dem Wein einen duftigen und sanften Charakter verleihen.
Früh reifender Gelber Muskatteller ist nur auf zwei Prozent der Anbauflächen zu finden. Zurückgekehrt ist auch der Fedörwein: 1999 pflanzte András Kanczler, Kellermeister von Tokaj Hetszölö, auf dem vulkanisch durchsetzten Lößboden erstmals wieder neue Köveszölo-Rebstöcke, die zuvor der Phylloxera zum Opfer gefallen waren. Rotwein darf in der Weinregion nur zu Versuchszwecken angebaut werden.
Wie bei Disznókö, ist auch bei Tokaj Hetszölö eine Weinprobe nur in Verbindung mit einer Besichtigung möglich. In den schier endlosen, 24 unterirdische Gängen des 700 Jahre alten Rákóczi-Kellers des Weinguts reifen Tokajer Aszú und Szamorodni in ihren Eichenfässern heran. Die Gänge münden in einen riesigen Saal, gut fünf Meter hoch, zehn Meter breit und 28 Meter lang. Hier wurde 1526 der ungarische König János Szapolyai gewählt. Noch heute ist die historische Halle besonderen Veranstaltungen vorbehalten.
Draußen, vor dem Verkaufsraum des Kellers, hält eine Brunnenfigur trunken Trauben in der Hand. Auf dem Hauptplatz wird ein Schwein gegrillt: Auftakt zum alljährlichen Weinfest, das Tokaj mit Marjorettentanz, Musik und abendlichem Festschmaus drei Tage lang Anfang August feiert. Zum Abschluss des schweren Festmahls serviert die Kellnerin mehr als einmal den Rákóczi, einen milden, vollmundigen Weinbrand.
Tokaj-Hegyalja ist Ungarns älteste Weinregion. Bis auf das Jahr 290 nach Christus geht ihre Geschichte zurück, belegt das Tokaj Museum mit Exponaten rund um den Wein und den Weinbau. Die Tokajer Weinstraße führt zu den bedeutendsten Weinorten. Nur 28 Gemeinden mit einer Anbaufläche von insgesamt 5.500 Hektar dürfen die Appellation „Tokaj“ benutzen.
In Mád ist die Kellerei der Herrenweine mit dem Orczy-Keller ansässig; in Tarcal residiert die mehrfach international ausgezeichnete Kellerei Királyudvar. Tolcsva ist die Heimat von Tokaj Oremus, mit 110 Hektar Anbaufläche in zwölf Weinbergen größtes Gut im Gebiet.
Immer wieder säumen unterwegs Schilder mit der Aufschrift „Bor“ den Straßenrand: Hier gibt es Wein, direkt vom Erzeuger. Andere Winzer haben ihre Felsenkeller geöffnet und einige Flaschen auf einen Stuhl gestellt, der die Kellertür hält. Ein Zettel mit Bleistiftnotizen dient als Preisliste, ein Kästchen als Kasse. Der Winzer indes dreht seine Runden auf einem niedrigen Mini-Traktor, speziell für die Arbeit im Weinberg hergestellt, lockert den Boden, düngt und sprüht.
Auf dem Nachbarfeld ruhen leuchtend orange Kürbisse im Grün; an den Alleebäumen entlang der Landstraße reifen Äpfel. Im Herbst gleicht die Weinroute einer Reise durch den Garten Eden, ist die ungeheure Fruchtbarkeit des Landes offensichtlich. Dort, wo die Weinberge die ungarische Tiefebene berühren, bedecken riesige Felder mit Sonnenblumen das flache Land.
Auf der Ladefläche von Pferdegespannen stapeln sich Wassermelonen, die später am Rand der Nationalstraße 3 nach Budapest zum Verkauf angeboten werden. Als das Gefährt eine breite Brücke überfährt, springt ein Mädchen vom Bock, greift Handtuch und Leinentasche und läuft den Hang hinab. Denn nicht nur der Wein, auch das Wasser von Tokaj ist etwas besonderes: Wer den Strand der Stadt besucht, kann am Zusammenfluss von Theiss und Bodrog gleich in den Fluten von zwei Flüssen baden.
Diesen Beitrag wurde am 2. August 2002 vom gms-Themendienst der dpa verbreitet und zahlreichen Medien, darunter Spiegel Online, veröffentlicht.