”Counter Assault” – „Gegenwehr” steht auf der schwarzen Plastikflasche mit Bärenspray, die Bergführer Kip Wheeler (36) noch schnell an seinem Gürtel befestigt, eher er in den Hubschrauber steigt. “So, wir können starten”. Mit neun Gästen an Bord heben drei A-Star 350 Helikopter von der Temsco Base ab und schweben über die einstige Goldgräberstadt Skagway hinaus in die Taiya Bay.
In der Bucht des Lynn Canals, größten und mit bis zu 500 Metern tiefsten Fjord der Inside Passage, liegen Kreuzfahrtschiffe vor Anker. Als kleine, rote Punkte klettern die Helikopter das Paradise Valley hinauf zum Denver Glacier, dem nördlichen Ende des Juneau Ice Field.
3.885 Quadratkilometer blau schimmerndes Eis, Jahrtausende alt, erstrecken sich zwischen schwarz schimmernden Berggipfel. Im unendlichen Weiß tauchen Klippen aus Eis auf. Daneben: ein Dog Camp. Jeden Sommer werden hier mehr als 200 Schlittenhunde auf die Rennen im Winter vorbereitet.
Mit dem Heli in die Wildnis
Sekunden später zieht Craig Jennison seine Maschine nach oben. Wie Sägezähne ragen die Gipfel der Sawtooth Ridge vor dem breiten Panoramafenster auf. Nach knapp 20 Minuten will Craig im unbewohnten Warm Pass Valley, das seinen Namen nach dem ersten eisfreien Pass erhielt, landen.
„Warte!” ruft Kip, der den Landeplatz mit seinem Fernglas observiert. „Ein Schwarzbär!” Sekunden später spürt der Bär den heftigen Wind der Rotorblätter und verschwindet im Wald. Das kleine Betonquadrat an der einstigen Bahnstrecke der White Pass & Yukon Route Railroad, auf der heute nur noch während der Saison einmal täglich ein Touristenzug verkehrt, ist Ausgangspunkt für ein Abenteuer, das bislang nur Skagway bietet: Heli-Hiking, Wandern in der Wildnis Alaskas.
Das Terrain: der Tongass National Forest, mit 16,9 Millionen acres – rund 68.391 Quadratkilometern – größtes Waldgebiet der USA und Teil des größten gemäßigten Regenwaldes der Welt. Mehr als 5.000 Braunbären leben hier, dazu Tausende Schwarzbären, Cougars (Berglöwen) und Moose (Elche), die mit ihren Hufen alles zu Boden reißen und tot trampeln, was sich ihnen in den Weg stellt.
Bären, Berglöwen und teuflische Widerhaken
Die kleine Gruppe bleibt dicht beisammen, während Kip und der zweite Führer Paul Reichert (34) Gepäck entladen. Unser Tagesziel: der Lookout am Laughton Glacier. Entfernung: vier Meilen. Gehzeit? Zwei Stunden! Kip lächelt, Paul befestigt seinen Trinksack im Rucksack, klemmt den Schlauch unter die Handschlaufe und marschiert los. Die Stiefel sinken tief in das weiche Moos ein, verschwinden bis zum Rand in dem feuchten Waldboden.
Unter stattlichen Sitka Spruce – die Rottanne ist der Nationalbaum Alaskas – blühen kleine, gelbe Buttercups. Staksig biegen sich die schlanken Stengel des Devil’s Club auf den Trail. Vorsichtig umgeht Paul die jungen Triebe: Über und über sind die großen Blätter auf Ober- und Unterseite mit feinsten Widerhaken übersät.
Kip ist indes längst bei einem Baum angelangt, dessen Rinde in Fetzen herab hängt. „Hier hat kürzlich ein Bär seine Krallen gewetzt – die Kambrium-Schicht der Borke ist völlig beschädigt, aber noch feucht. Machen Sie jetzt lieber ein bisschen Lärm beim Gehen, erzählen Sie, lachen Sie laut.“ Intensiv suchen wir mit den Augen die Umgebung ab.
Ob das Zotteltier vielleicht noch in der Nähe ist? Einen Bären sehen – live, ganz nah! Dieser Kitzel zwischen Angst und Aufregung lockt. Und bei Gefahr? Bei Schwarzbären, sagt Kip, muss man kämpfen, den Bären anschreien, sich größer machen. Nicht fliehen, sich umdrehen oder auf Bäume flüchten – der würde sicher hinterher klettern. Bei Braunbären wie den Grizzlies helfe nur eins: sich tot stellen. Auf den Bauch legen, Kopf und Hals schützen – und hoffen.
Moose auf zehn Uhr
Auf einmal wirkt die Flasche „Bear Spray“ am Gürtel doch recht klein. Und Kip ist bereits wieder weit weg. Geübt steigt er über die rutschigen Wurzeln, die sich um die Felsbrocken am Trail klammern, balanciert im flotten Schritt über schmale Holzbalken, neben denen rechts und links sumpfiges Wasser blubbert. Paul treibt die Gruppe von hinten, achtet darauf, dass niemand etwas anderes als Fußspuren in der Wildnis hinterlässt.
Nach einer Stunde folgt der Trail dem Skagway River. Große Granitblöcke blockieren den Fluss auf seinem Weg zum Taiya Inlet. Hinter den Gebirgshängen am gegenüberliegenden Ufer beginnt Kanada. „Moose auf zehn Uhr!” ruft Paul. Eine Elchkuh trinkt am Ufer, sieht uns und verschwindet im Unterholz, ohne jedoch nicht zuvor einige „Nuggets” zu legen. Sie stehen in Alaska hoch im Kurs, das Sammeln ist staatlich auf acht Stück begrenzt.
Bei den unscheinbaren Knödeln bringt bei den sonst so kruden Alaskern die Kreativität durch. Getrocknet und lackiert, werden sie in Supermärkten, Souvenirläden und anderen Shops als Ohrschmuck verkauft. Im Winter leuchten sie rot und silbern als Weihnachts-Deko; im Sommer flogen die Elchhaufen 37 Jahre lang beim Talkeese Moose Dropping Festival durch die Luft, Disziplin: Dungweitwurf. Hier fallen sie einfach zu Boden, sechs Stück, rollen unter den Farn, und sind verschwunden.
Drei Stunden. Und kein Ende des Auf und Ab zwischen Felsbrocken, Wurzeln, Farnen. Jeder Schritt gleicht einem Balance-Akt. Feuchte Blätter werden zur Rutschpartie, immer wieder blockieren Rinnsale und kleine Schluchten, in denen sich meterdicke Baumstämme verkeilt haben, den Weg. Nur dort, wo im Winter Lawinen hinunter gegangen sind, öffnet sich der Blick auf eisbedeckte Zwei- bis Dreitausender.
Nach der Laughton Glacier Cabin, einer einfachen Schutzhütte mit Feuerstelle vor der Tür, beginnt der Aufstieg zum Lookout. Mannshohe Granitblöcke stapeln sich aufeinander, mal locker, mal fester. Die hohen Fichten und Hemlock-Tannen weichen Buschwerk, dann Gras. Der Trail verläuft je nach Kletterkünsten durch das Labyrinth. Die Morgenkühle ist längst verflogen, sommerwarme 25 Grad zeigt Kips Wandercomputer.
Höhe – total subjektiv
Die gefühlte Höhe beträgt weit über 2000 Meter, doch tatsächlich erreicht der Trail “nur” 600 bis 900 Meter. „Das macht die extreme nördliche Lage”, sagt Paul. „Je nördlicher das Gebiet, desto tiefer sinkt die Baumgrenze. Bei höchstens drei Monaten Sommer ist die Vegetationsperiode so kurz, dass nur alles langsam wächst – oder klein bleibt…Look at me: Just 1.68m!” Kip lacht und ist bereits wieder zwischen den Felsen verschwunden.
Eine halbe Stunde später hat auch der Letzte den Lookout erreicht: ein kleines Sandplateau mit atemberaubender Aussichten. In einigen Kilometern: das zerklüftete Eisfeld des Laughton Gletscher, umgeben von tiefgrünen Tannen. Und vor unseren Füßen: eisgekühltes Bier aus Skagway – mit einem Hauch von „spruce”. Ein berühmter Brite soll das erste Bier genauso so gebraut haben: Kapitän James Cook. 1778 war er auf der Suche nach der Nordwestpassage auch nach Skagway gesegelt. Da Hopfen und Malz rar waren, nahm er junge Tannenspitzen hinzu. Cheers!
Dieser Beitrag ist 2002 im Handelsblatt, Anfang 2003 auf Spiegel Online erschienen, in erweiterter und aktualisierter Form 2008 in den “Fliegenden Blättern” der Frankfurter Rundschau.