Exoten im Glas: englischer Wein

Bei feierlichen Anlässen stößt die Queen in Buckingham Palace mit englischem Sekt an – mit einem heimischen Cuvée, der bei Blindverkostungen französischen Champagner geschlagen hat.

Dicht an dicht bedecken Rebstöcke die Südhänge der North Downs bei Dorking. 40 Kilometer südlich von London produziert Denbies Estate, mit 107 Hektar Englands größtes Weingut, edle Tropfen, die nicht nur der Queen munden.

Weine von Denbies und anderen Weingütern stehen mittlerweile nicht nur auf den Tischen von Londoner Restaurants, sondern haben auch die Regale der Supermärkte erobert. Insgesamt bewirtschaften englische Weinpioniere im Süden der britischen Insel rund 410 Weingüter mit einer Fläche von 773 Hektar. Bis 2008 soll sich die britische Weinproduktion von derzeit 2,5 Millionen auf fünf Millionen Flaschen verdoppeln.

2000 Jahre Tradition

Die Römer brachten die ersten Reben auf die Insel; in der Nähe von Dorking wurden Spuren eines Weingutes aus dem 1. Jh. n. Chr. freigelegt. Mit Ankunft der Normannen verbreiteten sich die Rebstöcke über die gesamte Südküste. Als Heinrich VIII. den Thron bestieg, gab es 139 große Weingüter in England und Wales – elf gehörten der Krone, 678 dem Adel, 52 der Kirche.

Im 15. Jahrhundert beendeten lang andauernde Kälteperioden den Weinbau, der erst 1875 vom Marquis von Bute mit dem Castell Coch-Weingut in Südwales wieder belebt wurde. Als Pioniere des modernen englischen Weinbaus gelten Ray Barrington Brock und Edward Hymans. Auf ihre Anregung legte Sir Guy Salisbury-Jones 1951 den ersten Weingarten der Nachkriegszeit in Hambledon bei Portsmouth an. 1955 kamen die ersten Tropfen in den Handel.

Vom Schweinebauern zum Weinkönig

Branchenprimus war bis 1986 ein schlecht laufender Schweinemastbetrieb, bis einem Geologen auffiel, wie sehr sich die Kalkböden der North Down und der Champagne ähnelten. Er riet daher, den Hof in ein Weingut zu verwandeln. Heute füllt Denbies jährlich 500.000 Flaschen ab – meist Weißweine aus den deutschen Rebsorten Müller-Thurgau und Reichensteiner sowie roten Pinot Noir.

Für 15 Euro wird der Gutsbesuch zum önologischen Rundumerlebnis mit dreiviertelstündigem Film im Rundkino, Werksbesichtigung im ferngesteuerten Schienenfahrzeug, kommentierter Verkostung im Weinkeller, Weinbergsrundgang und Besuch des Souvenirshops.

Denbies größter Konkurrent ist Chapel Down aus Tenterden. Durch externe Traubenzukäufe produziert das 15 Hektar-Weingut aus Kent ein Viertel aller englischen Weine und ist größter Schaumweinproduzent des Landes. Die Tropfen von Chapel Down werden in den höchsten Sphären genossen: von den Politikern der Houses of Parliament wie den Passagieren von British Airways.

Meist jedoch liegt der englische Weinbau in den Händen kleiner Familienbetriebe. Auf bis zu zehn Hektar produzieren sie kleine, feine Weine – so wie Bridget und Peter Gladwin von den Nutbourne Vineyards in Sussex.

Sie lesen ihre Riesling-, Chardonnay- und Pinot Noir-Trauben nicht mit Maschinen, sondern per Hand – um höchste Qualität zu garantieren. Für Verkostung und Verkauf restaurierte das Paar eine flügellose Windmühle, heute Wahrzeichen des Weingutes.

Schaufenster der boomenden Weinindustrie Insel ist ein Bauernhof in Alfriston bei Eastbourne. Hier residiert das English Wine Centre mit einem Weinmuseum und Walton’s Oak Barn, einer restaurierten Scheune für Hochzeiten und andere Veranstaltungen. Alljährlicher Höhepunkt war jahrelang das English Wine Festival im September.

Die neue Champagne

Die Renaissance des englischen Weins beruht auf zwei Faktoren – der geologischen Ähnlichkeit südenglischer und nordfranzösischer Landstriche und dem Klimawandel. Aufgrund der globalen Erwärmung, so vermuten Wissenschaftler, könnte Südengland die Champagne in den nächsten 50 Jahren als bestes Anbaugebiet für Pinot Noir und Chardonnay ablösen. Schon heute erwägen Champagnerfirmen, Teile ihrer Rebflächen nach Kent und Sussex zu verlegen.

Dieser Beitrag ist als Special im Baedeker “Südengland” erschienen. 

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