Hiddensee: Dat söte Länneken

30 Minuten trennen Hiddensee von der Hektik der Welt. Das autofreie Ostseeidyll, das einst Hauptmann begeisterte, lockt heute Hamburger und Berliner auf das „Söte Länneken“ im Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft.

Wie ein Wellenbrecher legt sich die Insel, fast 19 Kilometer lang und 300 bis 3.000 Meter breit, schützend vor die Westküste Rügens – zur Seeseite mit einem endlos langen Sandstrand, zur Boddenseite stark zerrissen, zerlappt in unzählige Buchten und Binnenseen.

Seine Seepferdchen-Form, im Wappen verewigt, erinnert an Sylt. „Wir sind die Antithese!“ widerspricht stolz Alfred Langemeyer (42), Kurdirektor, Baumeister, Landschaftsplaner in Personalunion. „Kein Golfplatz, kein Schickimicki, keine Shoppingstraßen oder Szenekneipen. Unser Luxus ist: Zeit. Zeit für ein Buch, für Muße, fürs Miteinander.“

Hiddensee führte schon immer mit den Errungenschaften der Zivilisation wenig im Schilde. Der Flughafen wurde stillgelegt, die Autos bereits 1923 von der Insel verbannt. Statt Abgasen und Ampeltakt prägt das gleichmäßig-ruhige Klackklackklack vieler Pferdehufe den Verkehr.

Nicht breite Straßen, sondern gewundene Wege und Trampelpfade laden ein, die Insel zu Fuß oder per Fahrrad zu entdecken. Selbst Bürgermeister, Kurdirektor und Pastor radeln. Durch Dünenheide und Salzwiesen, vorbei an wildem Thymian, windzerzausten Krüppelkiefern, weidenden Schafen und weiß verputzten Reetdachhäusern.

Sie gehören zu Neuendorf. Das Dorf, um 1700 an der schmalsten Stelle der Insel erbaut, steht komplett unter Denkmalschutz. Dicht an dicht ducken sich hier die Fischerkaten in parallelen Reihen unter dem hohen Himmel und schützen sich gegenseitig vor dem Wind.

Besonders nach den heftigen Stürmen im Herbst hält Ingo Engels nichts mehr daheim. Dann steigt der 49-Jährige, im Hauptberuf Hausmeister der Inselschule, in seine gummierte Watthose, ergreift Kescher und Taschenlampe und zieht selbst nachts zum Strand hinaus. Engels ist Bernsteinfischer, süchtig nach dem gelben Gold der Ostsee.

Im Bernsteinzimmer des Inselmuseums sind seine schönsten Stücke zu bewundern, geschliffene und grobe Brocken, sanft glänzend von Milchweiß über durchsichtiges Goldgelb bis Dunkelrot und Kastanienbraun. Für sammelnde Gäste gibt’s an der Kasse das Bernsteinkästchen, eine metallene Minibox für die Strandschätze. Gleich daneben steht das passende Utensil für die Raucher: den „Strand-Ascher“, ein kleines Kästchen für die Kippen.

1872 spülten Wellen ein ganz besonders wertvolles Treibgut an den Strand: den „Hiddenseer Goldschmuck“, eine Halskette der Wikinger aus dem 10. Jahrhundert. 14 Anhänger und eine Brosche, fein geschmiedet aus ziseliertem Gold. Der wertvolle Fund gehört heute dem Kulturhistorischen Museum in Stralsund – das Inselmuseum besitzt einzig eine gelungene Kopie.

Am Aufgang zum ersten Stock hängen Radierungen von Günther Grass zum Verkauf. Mit Hiddensee verbindet den Dichter eine ganz besondere Liebe: Er hat die Tochter des einzigen Inselarztes geheiratet. So wie Grass fühlen sich seit Jahrhunderten gerade Künstler zu Hiddensee hingezogen.

Den Ausschlag gab Ludwig Kosegarten. In überschwänglichen Versen lobte der stadtmüde Pastor und Dichter um 1792 die Einsamkeit und Ursprünglichkeit dieses Eilandes. Kosegartens Lobpreisungen wurden schnell bekannt. Wilhelm von Humboldt ließ sich mit dem Fährboot hinüber rudern, Goethe erwähnte die Insel in seinen Maximen und Reflexionen.

Hiddensee avancierte zum Geheimtipp von Literaten, Malern und Schauspielern. Im Sommer 1885 ließ auch Gerhart Hauptmann, damals noch ein junger, unbekannter Dichter, nach Hiddensee übersetzen. Begeistert kehrte er immer wieder zurück, erstand 1930 in Kloster sein Sommerhaus und formulierte den Werbespruch, den die Insel bis heute in alle Welt hinaus trägt: „Hiddensee ist das geistigste aller Seebäder“.

An dem damals schon existierenden FKK-Strand spazierte Hauptmann mit Thomas Mann entlang, ließ sich von den „vielen schönen, oft nackten Frauenkörpern“ inspirieren, diskutierte mit Max Reinhard über das impressionistische Theater und verbrachte zusammen mit Schauspielerin Asta Nielsen, seinem Bruder Carl, dem Theaterkritiker Alfred Kerr und dem Maler Willy Jaeckel feuchtfröhliche Abende im Klosterkrug.

Gerhart Hauptmann liebte einen guten Tropfen – und ließ daher unter dem Kreuzgang, der die Villa Seedorn mit dem nachträglich angebauten Arbeitszimmer verbindet, einen Weinkeller anlegen. Sonja Kühne, die nach 15 Jahren als Leiterin des Hauptmann-Hauses vor wenigen Wochen in den Ruhestand ging, hat ausfindig gemacht, welchen Wein Hauptmann genoss: Rote und Weiße vom Ihringer Winklerberg. Für acht Euro wandert eine Flasche aus dem Badischen in den Beutel.

„Hoch stand der Sanddorn am Strand von Hiddensee,“ trällerte Nina Hagen in den 1970er-Jahren, während Wolf Biermann seinen Bauch in die Sonne streckte. „Zu Ostzeiten war unser „Capri von Pommern“ eine Partyinsel“, erinnert sich Fritz Wolter (67).

Der Kutscher schiebt seine Prinz Heinrich Mütze noch tiefer in den Nacken, besteigt seinen Planwagen, greift die Zügel und lässt seinen semmelblonden Haflinger „Joseph“ nach Vitte trafen. Die „Hauptstadt“ von Hiddensee ging aus einem der zahlreichen Handelsplätze für Heringe hervor, den sogenannten Vitten. In den letzten zehn Jahren hat sich Hiddensee hier am stärksten verändert.

In Vitte brummt der Tourismus. Das Berliner Figurentheater „Homunkulus“ aus Berlin präsentiert auf der Seebühne nicht nur zur Saison Puppenspiel. Das Zelt-Kino zeigt Leinwandhits, die Blaue Scheune Kunst von der Küste. Das Henni-Lehmann-Haus versorgt Gäste wie Einheimische mit Lesbarem.

Zwischen Krimis und dicken Schmökern liegt Insel-Literatur – nostalgische Kinderzeichnungen von Elisabeth Büchsel, monochrome Lichtbildner von Ilse Elbel, der 91-jährigen Insel-Fotografin.

Nach der Wende wandelte sich der Wallweg zur Shoppingstraße, das Süderende zum Wohngebiete der Feriengäste. Hier verkauften die Fischer lieber ihr Land als ihren Fang, erbauten Ferienwohnung an Ferienwohnung und klagen seitdem: Wir sind ein aussterbendes Gewerbe.

Doch noch immer kehren kraftvolle Trawler mit Bündeln aus rot-schwarzen Bojen im Morgengrauen vom Fang zurück, wird Dorsch direkt am Kai vom Kutter verkauft, fangfrische Makrelen an der Mole geräuchert. Bis heute bilden die Fischer den heimlichen Insel-Adel. Nur haben sie heute auch noch andere Einkünfte, verleihen Fahrräder,  führen Gäste führen oder vermieten Ferienwohnungen.

Jeder der 1.300 Insulaner hat mehrere Berufe, sorgt sich um die Gäste auf seine Art. Der eine kantig-direkt, der andere bemüht freundlich. Denn die Urlauber halten die Insel über Wasser. 60.000 Ferien- und 330.000 Tagesgäste pilgern jährlich zum Grab von Hauptmann in Kloster, um ein Blättchen von dem Efeu zu ergattern, den der Dichter sich selbst 1932 aus Amerika mitgebracht hatte.

Oder wandern durch den Dornbusch, Hiddensees Hochland im Norden. Bis zu 72 Meter steigt am Bakenberg der Grundmoränenhügel auf, ein Geschiebe aus Ton, Sand, Lehm, Kies und großen Felsblöcken, von Wind und Wasser geschichtet und zerklüftet. Ginster und Sanddorn blühen hier, im Sommer sogar seltene Königskerzen.

Aus 95 Meter Höhe gleiten stille Lichtbalken hinaus auf das Meer: Das Leuchtfeuer Dornbusch, wo mit Walter Hoerenz bis 1999 Deutschlands letzter Leuchtturmwärter wirkte, weist heute vollautomatisch rund um die Uhr den Weg nach Hiddensee. Und auf die Wetterkarte der ARD.

Seit 1998 bestätigt das Wetterstudio von Jörg Kachelmann, was die Insulaner schon lange wussten: „Bi uns scheint de Sünn öfters als över Land!“ 1.900 Stunden Sonnenschein im Jahr – das kann sich sehen lassen. Düsseldorf bringt es gerade mal auf 1.400 Stunden….

Hiddensee: Info

Insel Information Hiddensee

Norderende 162, 18565 Vitte/Seebad Insel Hiddensee, Tel. 038300/642-26,27, 28;  www.hiddensee.de, www.seebad-hiddensee.de

Fährverkehr/Wassertaxis

Reederei Hiddensee

Achterndiek 4 , 18565 Vitte/Seebad Insel Hiddensee, Tel. 01803/21 21 50,  www.reederei-hiddensee.de

Ganzjährig täglich mehrere Abfahrten ab Schaprode/Rügen nach Neuendorf, Vitte und Kloster, vom 31.3. bis 2. 11. auch von Stralsund. Bewachter gebührenpflichtiger Großparkplatz am Ortseingang Schaprode

Dieser Beitrag ist 2005 im Handelsblatt erschienen sowie später, aktualisiert und verändert, auf Schwarzaufweiss.de.

Verwandte Artikel:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert