Hornborga: Der Tanz der Kraniche

Keine lauten Stimmen, höchstens ein Wispern. Andacht. Konzentration. Warten. Plötzlich zerreißt ein trompetenartiger Ruf die morgendliche Stille am Hornborga-See. Hobby-Ornithologen und Laien greifen zu Fernglas und Fotoapparat, pressen im südschwedischen Naturreservat die Linsen gegen die deckenhohe Glaswand des Naturum, die sie nur 100 Meter vom Spektakel trennt.

Inmitten einer Arena aus Campingmobilen, endlosen Schlangen geparkter Autos und Bussen balzen sich 5000 bis 6000 Kraniche. Ihr Paarungstanz – „Transdensen“ genannt – lockt jährlich bis zu 100.000 Besucher nach Västergötland in Westschweden.

Anfang März verlassen die Kraniche ihre Winterquartiere in Portugal, Spanien und Nordafrika. Auf ihrem Weg zu ihren Nistplätzen im Norden sammeln sie sich auf Rügen zu großen Schwärmen. Bei günstigem Wetter legen sie die 400 Kilometer Luftlinie zum Hornborga-See an einem Tag zurück. Ihre Fluggeschwindigkeit beträgt dabei bis zu 65 Kilometer in der Stunde.

Jeweils am Nachmittag landen die Kraniche in größeren oder kleineren Scharen auf den Feldern zwischen Falköping und Stora. Versorgt mit Thermoskannen, Decken und heißem Kaffee beobachten die dick eingemummten Zuschauer, wie die „Kleinen Menschen“ – so nennen die Lappen die europäischen Kraniche – sich stärken. Die Fotografen haben berits morgens um 4.30 Uhr die offiziellen Verstecke im Rastgebiet bezogen.

Im Gepäck: Schlafsack, Stuhl, Mobil-Toilette, warmes Essen. In den 1,20 Meter hohen, 2,10 Zentimeter langen und 95 Zentimeter breiten Holzhütten, die das Falköpings Turistbyra für 300 Kronen pro Tag vermietet, hocken sie still und unbeweglich, bis gegen 21.30 Uhr der letzte dieser scheuen Vögel das Feld verlassen hat.

Klick, das erste Foto: Mit halb geöffnetem Schnabel und seitlichen Schlenkerbewegungen durchwühlen die Kraniche systematisch die Felder, picken Körner, schnappen nach Insekten und Mäusen. Bis zum Beginn der 1970er-Jahre fanden die Vögel auf den Feldern vor allem Kartoffeln, die die Bauern für die Branntweinherstellung anbauten. Die Mechanisierung der Landwirtschaft entzog diese Nahrungsgrundlage – die Vögel drohten zu verhungern.

Doch der World Wide Fund for Nature (WWF) erkannte rechtzeitig die Gefahr und organisierte eine Zusatzfütterung. Der Kartoffelanbau für die Kraniche wird seither von den Kommunen Falköping und Skara sowie der staatlichen Naturschutzbehörde finanziert. Zusätzlich werden während der Kranichrast 15 Tonnen Gerste allabendlich an die Vögel verfüttert.

Langsam wird es dunkel über dem Feld. Die Zuschauer stellen Stative auf, jagen Film um Film durch die Kamera. Motiv: Abschied in der Abendsonne. Mit langgestreckten Hälsen rennen die Kraniche eine kurze Strecke gegen den Wind, schwingen sie in die Luft und fliegen in Keilformation vom Futterplatz zum Hornborga-See. Im knietiefen Wasser verbringen sie hier stehend die Nacht – sicher und geschützt vor Bodenfeinden wie Hunden oder Füchsen.

Dass sie hier wieder heute rasten, ist der Erfolg einer in Nordeuropa einmaligen Natursanierung. Sie war 1977 einstimmig vom schwedischen Reichstag beschlossen worden – als Antwort auf eine 100-jährige ökologische Katastrophe. Fünf Mal war im 19. und frühen 20. Jahrhundert der Wasserspiegel gesenkt worden, um Kulturfläche zu gewinnen. Schilf und Weidengestrüpp breiteten sich aus. Der See vertrocknete, die Vögel blieben aus.

Die Erkenntnis, dass Kraniche mit ihrer Anwesenheit oder ihrem Fortbleiben einen Hinweis auf den Zustand der geschonten oder geschundenen Natur geben, bewirkte ein Umdenken. Am 27. März 1952 stellte der Regierungsbezirk Skaraborgs Län das Rastgebiet der Kraniche unter Schutz. Auf einer Fläche von 3.600 Hektar wurde jeglicher Zutritt verboten. 25 Jahre später bewilligte der schwedische Reichstag 53 Millionen Kronen für die Rekultivierung des einmaligen Feuchtbiotops.

Mit Spezialmaschinen wurden zehn Quadratkilometer Schilf gemäht, anschließend der Wasserspiegel um zunächst 80 Zentimeter, später um weitere 60 Zentimeter angehoben. Mit dem Frühjahrshochwasser 1987 erreichte der Hornborga-See wieder seine ursprüngliche Größe. Deiche, erbaut aus dem Torf des Seeufers, schützen das umliegende Ackerland.

Auf dem Flug von und zu den Schlafplätzen werden die Kraniche seit Mitte der 60er Jahre von Amateur-Ornithologen gezählt. Eine Stunde vor Sonnenaufgang versammeln sich die freiwilligen Helfer, bilden Mannschaften, stellen ihre Uhren sekundengenau, um Abweichungen exakt beurteilen zu können.

Morgens um sechs erwacht der See. Dann beginnt das einzigartige Schauspiel. Umhüllt vom kühlen Dunst des Morgens stehen die Kraniche nebeneinander, recken ihre langen Hälse senkrecht in die Höhe. Ihre roten Stirnflecken leuchten in der fahlen Frühlingssonne. „Rori Rori“ trompeten die ersten Paare im Duett. Im Parademarsch stelzen sie durch das seichte Wasser, stoßen ihre Fanfaren aus. Die Besucher hören ein ohrenbetäubendes Konzert.

Als Einleitung zur Balz verneigt sich das Männchen, das zehn Zentimeter kleinere Weibchen schwenkt den Hals. Der Kranich-Tanz kann beginnen. Mehrere Tage hintereinander springen und hüpfen die Vögel, spreizen ihre mehr als zwei Meter breiten Flügel aus, machen gewaltige Luftsprünge, bis die Dame sich demutsvoll duckt. Kurz vor der Eiablage „befliegt“ sich das Paar – und bleibt sich dann ein ganzes Leben lang treu.

Kaum ist der Hochzeitstanz vollzogen, reist das Kranichpaar weiter gen Norden in die Brutgebiete. In den einsamen Sümpfen und Mooren Skandinaviens bauen sie auf kleinen Grasbuckeln oder Inseln ihre Nestern. 28 bis 30 Tage brüten beide Eltern gemeinsam, dann schlüpfen die Jungen. Neun Wochen später ist der Nachwuchs flügge.

Im Herbst ziehen die Kraniche wieder gen Süden. Von Ende August bis Anfang Oktober stehen die bräunlich-grauen Jungvögel – noch ohne roten Kopffleck und die schwarz-weiße Halszeichnung – etwas unbeholfen neben ihren Eltern zum ersten Mal im Hornborga-See: Das Naturschutzgebiet bildet diesmal die letzte Rast auf dem Wegs ins Winterquartier.

Dieser Beitrag ist 1997 im Frauenmagazin YoYo erschienen.

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