Bernstein und Badekultur machten einen Küstenstreifen berühmt, die sich wie ein Quader westlich von Kaliningrad (Königsberg) in die Ostsee schiebt: das Samland. 115 Kilometer lang und 30 bis 35 Kilometer breit, endet die Halbinsel im Süden bei der Marinebasis Baltijsk (Pillau) am Frischen Haff, im Osten an der Dejma (Deime), im Norden an der Kurischen Nehrung.
Dazwischen liegt eine Steilküste mit tiefen Schluchten und goldgelben Sandstränden, mit Buchenwäldern, Bernsteinfeldern und zwei Badeorten, die in den letzten 50 Jahren ihre Rollen getauscht haben: Das 1816 zum königlichen Seebad erhobene Selenogradsk (Cranz) und das einfachere “Volksbad” Swetlogorsk (Rauschen).
Selenogradsk – mehr Patina als Pracht
Im mondänen Bademekka von einst, heute Verwaltungszentrum der Selenogradski Rayon, hat die alte Pracht Patina angesetzt, der Zahn der Zeit die schönsten Zeugnisse zerstört. Die historische holzbeplankte Promenade wich einem Plattenweg aus Beton, in zahlreichen Gästehäusern der Gründerzeit gähnen leeren Fensterhöhlen und, die einst einheitlich weißen Häuser am Meer präsentieren sich heute als Farbenspiel zwischen verblichenem Putz und poppigen Modefarben. Nur hier und da wird das eine oder andere Objekt stilgerecht saniert; werden die Schlaglöcher in den Straßen in Eigenarbeit aufgefüllt.
Auch die Angebote der Gastronomie und Hotellerie lassen sich – noch – an einer Hand abzählen. Doch können die Königsberger noch immer in nur einer halben Stunde mit der “Elektrischka” dem Staub und Gestank ihrer Stadt entfliehen, durchatmen, in die Wellen der Ostsee eintauchen und sich unter dem hohen östlichen Himmel am Strand sonnen. Wenngleich auch hier die Zeit den Charme zerstört. Viele der Buhnen, die einst die Erosion eindämmten, sind heute ebenso verschwunden wie die Strandkörbe und Sandburgen.
Swetlogorsk: Sotschi an der Ostsee
Wie anders wirkt dagegen Swetlogorsk (Rauschen). Das einstige Volksbad, unter den Sowjets zum Sotschi des Nordens ausgebaut, setzt seit der Wende auf Urlaubsgäste aus dem Westen. Dabei pflegt und hegt der Bade- und Kurort sein historisches Erbe – gehört er doch zu den wenigen Städten des alten Ostpreußens, die den Zweiten Weltkrieg relativ unbeschädigt überstanden haben.
Wilder Wein umrankt sein Wahrzeichen: das Warmbad. Unter dem Kuppeldach werden jährlich an 100.000 Kurgäste Bäder und Massagen verabreicht. Von der Aussichtsplattform seines 25 Meter hohen Wasserturms reicht der Blick über leicht gewelltes Land, bedeckt mit ausgedehnten Fichtenwälder – in Swetlogorsk kommen auf jeden Einwohner 140 Quadratmeter Wald und Grün. An manchen Gewächsen stecken Schilder mit russischen Inschriften: Amerikanische Hortensien, japanische Magnolien und andere exotische Pflanzen laden zu einer grenzenlosen Weltreise in der russischen Exklave.
Auch Künstler kamen gerne nach Rauschen. Käthe Kollwitz besaß hier ein Sommerhäuschen, Bildhauer Hermann Brachert wohnte und arbeitete im nahen Ortradnoje (Georgenswalde). Sein Wohnhaus ist heute Museum, sein Atelier nicht mehr erhalten. Seine berühmteste Skulptur steht im Kurpark: die Wasserträgerin, eine Brunnenfigur aus hellem Marmor. Auf der Strandpromenade konkurriert seine “Nymphe” mit einer hölzernen Huldigungen ans Meer: Neptun, Sadko und Russalka als Großplastik.
Bänke säumen den breiten Boulevard aus Beton. Ältere Gäste flanieren, genießen den Panoramablick; jüngere üben sich beim Skaten. Hinter zum Strand, der auch hier viel von seiner Breite eingebüßt hat, führen drei Wege: im Westen eine kleine Seilbahn – oder, falls sie mal wieder nicht fährt – der Serpentinenweg.
In der Mitte, am Standort der ehemaligen Drahtseilbahn, transportiert ein Fahrstuhl fußmüde Touristen hinauf und hinunter. Das stilvolle Ende im Osten: eine breite Paradetreppe. Sie endet an einem monumentalen Mosaik mit Tierkreiszeichen – der größten Sonnenuhr Europas.
Jantarny: die Bernsteinmine von Kaliningrad
Nur mit Sondergenehmigung, die meist problemlos erteilt wird, ist ein weiterer Superlativ zu besichtigen: die größte Bernsteinmine der Welt. 600 bis 800 Tonnen Bernstein fördert das Staatliche Kombinat Russy Jantar alljährlich im Tagebau von Jantarny (Palmnicken) – 94 Prozent der Weltproduktion. Doch nur zehn Prozent davon wandern in die Schmuckherstellung – der Rest landet auf der Abraumhalde. Oberhalb des Ortes öffnet sich der Blick auf die riesigen Bernsteinfelder mit Vorräten für weitere 300 Jahre. Anderthalb Tonnen dieser blauen Erde enthalten zwei Kilo Bernstein.
An den Abflussrohren der Mine stehen Männer in gelbem Ölzeug. Nur, wer wie diese Bernsteinfischer eine offizielle Lizenz besitzt, darf das Gold der Ostsee aus dem Abwasser fischen. Zu Hunderten bewacht Sicherheitspersonal die Mine und die Menschen im Ort, pocht auf das Monopol. Doch die Macht hat die Mafia: Bis zu 80 Millionen Dollar betragen jährlich die Verluste durch Schmuggel, Diebstahl, illegalen Abbau. Nach der Betriebsbesichtigung zeigt ein kleines Museum, was alles aus Bernstein hergestellt wird. Schaustück der Ausstellung ist ein opulenter Schmuck, der fast drei Tonnen wiegt.
Schöner sind die Schätze, die das weltgrößte Bernsteinmuseum in Kaliningrad präsentiert: 6000 Objekte von hellgelb bis honiggold, klar wie Glas oder mit Insekten im Innern. Ganz nett, denken die Besucher, schauen hin, verweilen kurz und eilen weiter. Ihr Ziel: die Kopien des legendären Bernsteinzimmers aus dem Sommerpalast von Katharina der Großen in der Nähe von St. Petersburg. Die reich verzierten Fresken, 1941 von der Deutschen Wehrmacht demontiert und ins Königsberger Schloss gebracht, sind seitdem verschollen – und beflügeln die Fantasie.
Dieser Beitrag ist am 10. August 2001 auf Spiegel Online erschienen.