Wenn die Narren in Rio und am Rhein ihre Masken und Pappnasen längst wieder in der Schublade verstaut haben, geht es in Dänemark erst richtig los: 90.000 Jecken feiern im Mai in Aalborg ausgelassen den größten Karneval Skandinaviens.
Seit 1983 bricht in der 21. Woche alljährlich in der Hauptstadt Nordjütlands der Karneval-Vvirus aus. Warum erst jetzt? „Dann ist es warm!“ lacht Karina, dreht sich und zeigt ihr Kostüm: Dicht an dicht bedecken goldgelbe Pailletten Slip und BH. Über hochgesteckten, sonnenblonden Haaren türmt sich ein Federbusch, der Brasilianerinnen erblassen ließe. Goldener Lidschatten umrahmt die Augen, feurig rot leuchten die Lippen, auf dem Bauchnabel funkelt ein goldenes Piercing in der Sonne.
Karina ist Tänzerin der Aalborger Sambatruppe Poco Loco, die – gemeinsam mit 15 anderen Gruppen – die „Battle of Carnival“ ficht. Ihr Ziel: als beste Karneval-Band des Jahres ausgezeichnet zu werden – und neben dem Preisgeld von 10.000 DKK (rund 1.340 Euro) die holzgeschnitzte Karnevalsmaske von Kirsten Gitz-Johansen in Empfang zu nehmen.

Freitag Abend, kurz vor 18.00 Uhr. Aus allen Himmelsrichtungen strömen Besucher und Battle-Bands auf den idyllischen C. W. Obels Plads im Herzen von Aalborg. Im Schatten restaurierter Bürgerhäuser mit Stufengiebel, Backsteinbauten und dem Turm der weiß getünchten Budolfi-Domkirche richten die Karnevalsgruppen ihre Kostüme, proben die Präsentation und fiebern aufgeregt ihrem Umzug entgegen, der sich eine Stunde lang durch die Stadt zum Stadtpark „Kildeparken“ windet. Mehr als 70.000 Zuschauer applaudieren entlang der Route. Mitten unter ihnen sind auch vier Juroren, die die einzelnen Gruppen beurteilen – beim Umzug wie bei der späteren Show auf der Hauptbühne im Kildeparken.

Die Prozession der Battle-Bands beginnt mysteriös. Schwarz gekleidete Wesen tanzen an der Spitze, das Gesicht hinter Holzmasken verborgen, die expressiv seelische Stimmungen ausdrücken: Wut, Furcht, Ärger, Überraschung oder Freude. Jede Maske ist ein Unikat, handgeschnitzt aus Birke oder Kiefer von Kirsten Gitz-Johansen (62), Lehrerin und Leiterin des „Dunkelvolkes“.
Seit 1989 entspringen die archaischen Erdgeister alljährlich im Frühjahr dem Schoß von Mutter Natur und stürzen sich ins Karnevalsgetümmel – in Oslo, Viareggio und London, selbst beim Neujahrsfest in Singapur war die Gruppe zu sehen, die für ihre Show 2001 mit dem 13.000 Euro dotierten Nordjyske Kulturpris ausgezeichnet wurde. Seit mehr als 15 Jahren gestaltet das Dunkelvolk aus Nordjütland den Auftakt des Aalborger Karnevals. 25 Maskentänzer treiben die bösen Geister aus der Stadt und scheuchen die Langeweile fort: Jetzt toben die tollen Tage.

Mit schrill-schräger Blasmusik aus Trompeten, Posaunen, Snare-Drums und Kuhglocken, eben typisch alemannischer „Guggemusik“, marschieren die Schweizer Truubeschraenzer aus Aarburg den Vesterbro hinauf. Unter riesigen blau-weißen Masken schwitzen De Sjattrellen aus dem belgischen Aalst. Für Schweden kämpfen die „Party Kings“ mit den Tücken ihrer Kostüme: Immer wieder droht der leichte Wind vom Limfjord die filigranen, meterlangen Sternzacken aus Alufolie von den Tragestangen zu heben.

Karibische Farbenflut bringen zwei britische Bands, die zur den Stars des alljährlichen Nottinghill Carnival von London gehören: Yaa Asantewaa und P.A.T.O (Pioneers And Their Offsprings), Erwachsene und Kinder in Kostümen aus Trinidad. Seit der Gründung des Aalborger Karnevals 1983 durch Bramwell Flyckt haben auch Karnevalsgruppen aus Bulgarien, Italien, Schweden, Norwegen, Slowenien, Litauen, Makedonien, Deutschland, den Niederlanden, Kamerun und Ghana an der „Battle of Carnival“ teilgenommen.

Jedes Jahr steht der Aalborger Karneval unter einem besonderen Motto. 2005 hieß es – zu Ehren des 200. Geburtstages von H.C. Andersen – „Eventyr“, was im Dänischen gleichwohl „Abenteuer“ wie „Märchen“ bedeutet; 2006 ging es „exotisch, erotisch“ zu, 2007 lud Aalborg zur „Maskerade“.
Bereits Mitte Mai wird in Aalborg der Karnevalskönig gewählt. Doch erst am Sonnabend Vormittag trifft er vom Meer her im Aalborger Hafen ein, den tanzende Nymphen, Narren und poetische Seeleute auf fantasievoll dekorierten Schiffen, Flößen oder Badewannen bevölkern. Zeitgleich streben drei Umzüge von Norden, Osten und Westen im Sternmarsch zum Honnørkajen, um den König zu empfangen. Mit dabei ist auch der Aalborger Bürgermeister Henning Gunner Jensen, der dem Karnevalskönig für einen Tag die Kontrolle über die Stadt übergibt – mit dem Stadtschlüssel.

Umgeben von seinen Hofdamen, schreitet Majestät, der immer wieder stolz unter seiner purpurnen Samtrobe seine Männlichkeit demonstriert, vorbei an der prunkvollen Renaissancefassade von Jens Bangs Stenhus vom Hafen bis zum Kildeparken, wo er anschließend mit 25 Stadtstreichern das traditionelle Bettler-Bankett feiert. Der wahrlich königliche Auftritt jedoch bildet nur die kleine Spitze der grandiosen „Grand Parade“, die in diesem Jahr am 29. Mai steigt. Ihre Besonderheit: Jeder kann teilnehmen. Man muss nicht Mitglied einer Karnevalsgruppe sein, nicht gut Samba tanzen können, sondern einfach nur: verkleidet sein und Spaß haben am bunten Treiben. Wenn der König die Parade der 25.000 Kaffeekannen, Wunderbäumen, Gogo-Girls, Hexen, Seeräuber und Supermänner abgenommen hat, wird im Kildeparken das große Volksfest vor Vortag bis Mitternacht fortgesetzt.

Vor vier Bühnen hotten Plüschhasen, Seeräuber und Squaws zu R & B, Bhangra, Jazz, Reggae und Rock’n’Roll ab. Familien picknicken unter knorrigen Kastanien, müde Narren holen ihren Schlaf nach, andere flirten. Einzig der Nachwuchs ignoriert das bunte Spektakel ringsum und schaukelt lieber auf dem Spielplatz – hat er doch mit 4.000 geschminkten Gestalten in drolligen und fantasievollen Kostümen bereits einen Kinderkarneval samt Umzug und Spielfest im Kildeparken gefeiert.

Vor der Hauptbühne steigt die Spannung: Welcher der fünf Finalisten siegt bei der Endausscheidung der Battle of Carnival? Zehn Minuten müssen genügen, um die Jury zu überzeugen. Vimoroz gelingt es. Die 1996 gründete Gruppe aus Aalborg, deren Namen lautmalerisch ihre Lebensfreude spiegelt – „Wi morer os“ heißt auf Dänisch „wir haben Spaß“ – trommelt und tanzt sich mit ihrer ungeheuer kraftvollen „Afro drums ‚n’ rhythms“-Präsentation zum wiederholten Mal auf den ersten Platz. Voll Pomp und Parodie übergibt König Karneval den Preis. Seine Amtszeit endet um Mitternacht – mit einem Feuerwerk über dem Hafen von Aalborg. Doch am 21. Mai 2010 übernimmt König Karneval wieder das Regiment – dieses Jahr unter dem Motto „Mars & Venus “. Alaaf in Aalborg!
Die Beitrag war eine Auftragsarbeit für den Reportagedienst von Visit Denmark und wurde von zahlreichen deutschsprachigen Medien veröffentlicht. 2009 erschien er leicht verändert im Online-Reisemagazin Schwarzaufweiss.de.
Aalborg habe ich auch hier vorgestellt.

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Ein Gedanke zu „Der Karneval von Aalborg: Rio im Mai“