Neubrandenburg: die eingekreiste Stadt

Neubrandenburg hat sich eingemauert. Eine 2300 Meter lange, über sieben Meter hohe Stadtmauer schottet seit dem 13. Jahrhundert die Altstadt ab, trennt sie heute von gesichtslosen Neubauvierteln, vierspurigen Ringstraßen und abweisenden Industriegebieten.

Einlass gewähren nur vier Tore – sie verliehen der Siedlung am Tollensesee schon früh den Beinamen “Stadt der vier Tore”.

„Die vier Tore sind wunderbare Proben der Backsteingotik, im Vergleich zu anderen elegant, als wären sie mehr zur Zier als zur Wehr da,“ schrieb Ricarda Huch 1930 begeistert in ihrem Buch „Im Alten Reich. Lebensbilder deutscher Städte“, das 1933 erschien.

Schönste „Probe“ ist wohl das dreigeschossige Stargarder Tor aus der Mitte des 14. Jahrhundert mit seiner weiß-roten Backstein-Blendoptik. Neun weibliche Steinfiguren, gekleidet in steife Plisseegewänder, strecken dem Besucher in schwindelnder Höhe die Arme entgegen.

Acht dieser „Adorantinnen“ aus Terrakotta schmücken auch das „Neue Tor“. In dem Torturm aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhundert residiert heute die Fritz-Reuter-Gesellschaft. Sieben Jahre lang hat der Mecklenburger Mundartdichter in Neubrandenburg gelebt. Die Geschichten jener Tage hielt Reuter in seinem Roman „Dörchläuchting“ fest.

Er schildert darin auch den Streit zwischen „Durchlaucht“, dem Großherzog, und der einfachen Bäckersfrau Schult, im Volksmund „Mudder Schulten“. Sie hatte als einzige in der Stadt gewagt, dem hohen Herrn die Stirn zu bieten.

Während die Handwerker den „Paleh“ (Palais) auf Pump errichteten mussten, die ganze Stadt Gläubiger des Herzogs war, hatte sich die resolute Frau 1776/77 geweigert, ihre Brötchen ohne Bargeld zu liefern. Die Folge: Der Palast verfiel, Mudder Schulten blieb.

Ihr Brunnen, 1923 von Wilhelm Jäger geschaffen, steht am Ende der Stargarder Straße. Wie wütend der Großherzog über den bürgerlichen Widerstand gewesen war, hält op platt eine Inschrift im Sockel fest: “Impertinentes Frauenmensch! rep hei un stödd ehr de Reknung ut de Hand” (“Impertinentes Frauenmensch!” rief er und stieß ihr die Rechnung aus der Hand”).

Das Neue Tor von Neubrandenburg. Foto: Hilke Maunder
Das Neue Tor von Neubrandenburg. Foto: Hilke Maunder

Das Friedländer Tor, nach 1300 im romanisch-gotischen Übergangsstil erbaut, gilt als ältester Torturm der Stadt. Rundbögen und Friesdekor schmücken den zweigeschossigen Turm, der in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts massiv verstärkt wurde.

Ein „Zingel“, ein acht Meter hohes, dreigeschossiges Vorwerk mit fast vier Meter dicken Mauern, sollte die Wehrhaftigkeit der Stadt auch bei Feuerwaffen sichern. In den Fachwerkbauten an der Zwingermauer, wo einst Torschreiber und Zolleintreiber saßen, hocken heute Bürger und Besucher einträchtig beisammen: Das Torcafé verwöhnt mit Kaffee, Kuchen und Köm.

Wie es im Innern eines Stadttores aussieht, zeigt das Treptower Tor. Im Torturm von 1400 ist das Regionalmuseum für Ur- und Frühgeschichte untergebracht. Auf fünf Stockwerken sind Funde der Vorzeit ausgestellt – von der Steinzeit bis zur slawischen Besiedlung.

Oben angekommen, lohnt sich ein Blick durch die schmalen Rundbogenfenster. Baugerüste, Schutznetze, Kräne und Bagger prägen die Straßen im Zentrum. Heftige Kämpfe hatten in einer Nacht, am 29. April 1945, die alte Ackerbürgerstadt zu 84 Prozent zerstört.

Was der Krieg stehen ließ, schaffte der Kulturverfall: Die letzten 40 Jahre reduzierten Neubrandenburg zum gesichtslosen Neutrum. Umso engagierter werden heute mit großem Finanzeinsatz die letzten Schätze gerettet. Zur 750-Jahr Feier 1998 wurde St. Marien, seit 1978 restauriert, als neuer Konzertsaal mit Kunstgalerie eingeweiht.

Dieser Beitrag erschien ab 1991 als Feature in der jährlich neu erscheinenden Broschüre “1000 Ausflugsziele in Mecklenburg-Vorpommern aus dem Dreves-Verlag. Neubrandenburg habe ich auch in dem kleines Reiseführertaschenbuch “Nützliche Reisetipps: Mecklenburgische Seenplatte” aus dem Hayit-Verlag Köln vorgestellt. 

Musterbau der Backsteingotik: das Treptower Tor. Foto: Hilke Maunder
Musterbau der Backsteingotik: das Treptower Tor. Foto: Hilke Maunder

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