Sie sind ein absolutes Muss für jeden, der Kanada bereist: die „donnernden Wasser“, so der indianische Name der Niagarafälle.
3.000 Kubikmeter Wasser donnern pro Sekunde die rund 50 Meter hohen und 800 Meter breiten Klippen der American Falls und der kanadischen Horseshoe Falls hinunter – ein feuchtes Spektakel, das mehr als zwölf Millionen Touristen jährlich zu Land und Wasser, in der Luft und von Türmen aus erleben. Besonders Wagemutige stürzten sich in Fässern die Fluten hinab. Marilyn Monroe erlebte in Niagara ein Inferno, den Kampf auf Leben und Tod.
Das dumpfe Donnern der Niagarafälle, rund 100 Kilometer südlich von Toronto an der Grenze zwischen Kanada und den USA gelegenen, hängt wie eine unsichtbare Wolke über Niagara Falls, übertönt Verkehr, Musik, Gespräche. Tag für Tag, rund um die Uhr, prägt die Geräuschkulisse die Stimmung der Kleinstadt.
Selbst im Winter, wenn der Niagarafluss sich seinen Weg durch aufgeschobene Eisschollen und vereiste Stellen bahnen muss, verstummt das Donnern selten – so wie am Ostersonntag 1848, als eine eigentümliche Stille die Stadt überzog und Bürger mutmaßten, das Ende der Welt sei gekommen.
Wie sie sich irrten! Kaum hatte Napoleons Bruder auf seiner Hochzeitsreise die Fälle besucht, begann ihre touristische Vermarktung. Die Konkurrenzfrage haben die Kanadier für sich entschieden: 90 Prozent der Wassermassen fließen über die kanadischen Fälle, nur zehn Prozent stürzen sich auf amerikanischer Seite hinab. Trennende Barriere ist die kleine Insel Goat Island, verbindende Brücke die 1961 errichtete Rainbow Bridge.
Heute präsentiert sich Niagara Falls als Las Vegas en miniature, sind die berühmten Wasserfälle Kulisse und Katalysator für unzählige künstliche Attraktionen – wie Geisterhaus, Wachsmuseum, Schmetterlingsschau, Kasino oder IMAX-Theater. Dort hält der Film „Niagara – Miracles, Myths and Magic“ den Mythos lebendig.
Er erzählt von Wagemutigen wie der Lehrerin Anna Taylor, die sich um die Jahrhundertwende im Holzfass die Fälle hinabstürzte und überlebte; von Drahtseilakrobaten, die sogar Menschen huckepack über die Fälle balancierten, aber auch Todesmutigen, die hier ihrem Leben ein Ende setzten. Seit 1951 sind daher jegliche private Mutproben verboten.
Gern erteilt werden hingegen Drehgenehmigungen. Im Marilyn Monroe-Klassiker „Niagara“ bilden die Fälle die Kulisse für einen dramatischen Kampf um Leben und Tod. Später setzte „Superman III“ auf die spannungsreiche Szenerie.
Auch bei den natürlichen Attraktionen sind die Wasserfälle nur ein Höhepunkt. Seit 150 Jahren ein Klassiker: die Fahrt durch die Gischt. Zehntausende lassen sich, einheitlich vermummt in blaue Regenmäntel, täglich auf einem der sechs Schiffe der Maid of the Mist-Flotte von den American Falls zu den Horseshoe Falls schippern.
Ein ebenso feuchtes Vergnügen: die Wände aus Wasser zu Fuß erleben – hinter die Horseshoe Falls führt ein Tunnel, hinter den American Falls liegt die Höhle Cave of Winds.
Teuer und trocken lässt die Faszination hautnah per Helikopter oder im viersitzigen Sportflugzeug erleben – Flüge zu den Fällen starten pausenlos von Bahnhof und Bezirksflugplatz. Nachts, wenn die Wasserfälle in Farbkaskaden von Grün über Pink bis Perlmutt getaucht werden, sind die Fensterplätze in den beiden Aussichtstürmen Minolta (200 Meter) und Skylon (223 Meter) bis auf den letzten Platz besetzt.
In den Parks zu beiden Seiten des Flusses wird gepicknickt, geschaut, gestaunt; ab und an kommt ein Straßenmusiker vorbei, spielt seine Stücke, verschwindet im Dunkel der Nacht.
Die starke Erosion lässt die Fälle wandern. Jährlich ziehen sie sich mehr als einen Meter zum Eriesee zurück. So entstand im Laufe der Zeit unterhalb der Fälle eine elf Kilometer lange und 100 Meter tiefe Schlucht, die zunehmend das touristische Angebot komplementiert.
So starten seit neuestem hier Whirl Pool-Jetboats; kleine kraftvolle Flitzer, die mit hohem Tempo über die Stromschnellen tanzen. Eine halbe Meiler unterhalb der Fälle endet ihre rasante Fahrt am „whirlpool“, einem riesigen Strudel. Hoch oben schwebt das Whirlpool Aero Car, eine klapprig wirkende Drahtgondel, die den Fluss mit Blick auf die Fälle überquert.
Nur wenig weiter bedecken Weinstöcke die Niagara-Halbinsel. 18 Winzer, viele mit deutschen Wurzeln wie der Pfälzer Klaus W. Reif, erzeugen hier auf 6.000 Hektar hervorragende Weine – Chardonnay, Riesling, Gewürztraminer, Seyval Blanc und Pinot Noir. Als Begründer des kanadischen „Weinwunders“ gilt ein Österreicher. Karl Kaiser, in den 1970er- Jahren ausgewandert und Mitbesitzer des Weingutes Inniskillin, hat mit seinen Eisweinen aus Niagara längst international Furore gemacht.
Dieser Beitrag ist am 19. Oktober 2000 auf Spiegel Online erschienen.