51 Prozent aller Unfälle im Gebirge sind nicht Stürze, sondern Herzinfarkte, entstanden durch Überforderung. Tirol kontert mit einem neuen Trend: Hier trainiert die weltweit „Erste Bergschule für kreislaufbewusstes Wandern“ gezielt die Cardiofitness – beim „Wandern mit Herz“ am Achensee.
Langsam wie Schnecken kriecht die Gruppe den Berg hinauf. Andere Wanderer überholen sie flott, lächeln über die langsamen Weggenossen. Schnelligkeit ist nicht das Ziel von Renate Kaiser. In ihrer „Ersten Bergschule für kreislaufbewusstes Wandern“ wendet die 43-jährige Innsbruckerin erstmals sportmedizinische Erkenntnisse, die längst Eingang bei anderen Sportarten gefunden haben, auf das Bergwandern an.
Cardiofitness heißt die Devise. Jeder Wanderer trägt eine Pulsuhr am Arm. „Gehen Sie so schnell Sie können.“ 1.600 Meter misst die ebene Teststrecke. Renate Kaiser stoppt die Zeit, errechnet aus Körpergewicht, Alter, Zeit und Herzfrequenz die Kondition ihrer Teilnehmer. Schwach, mittelmäßig, mangelhafte, nur selten gut lautet das Ergebnis. Einige der Männer und Frauen staunen – hatten sie sich doch für fit gehalten.
An der Talstation der Rofanseilbahn beginnt morgens um neun die „Gesundheitswanderung“ hinauf zur Erfurter Hütte in 1840 Meter Höhe. Einige sind vom Ehrgeiz gepackt, wollen das „schlechte Ergebnis“ durch einen flotten Schritt bergauf wettmachen und beweisen, wie fit sie wirklich sind. Renate Kaiser lässt sie marschieren, kontrolliert bei der zweiten Biegung die Pulsuhr. 170. Der Wert ist zu hoch, die „anaerobe Schwelle“ überschritten. Die Folge: Der Körper holt sich seine Energie nicht aus dem Fett, sondern aus dem körpereigenen Eiweiß. In den Muskeln hat die Milchsäurebildung begonnen – Muskelkater ist garantiert.
160 minus Lebensalter ist der ideale Pulswert zum Aufwärmen. Erst nach einer Viertelstunde steigert sich das Wandertempo auf die mittlere Trainingsfrequenz (180 minus Lebensalter). Unendlich langsam gleitet die Landschaft vorbei: der dichte Bergwald, dann die Almen. In der Ferne leuchtet gletschergrün der Achensee, das Fjord Tirols. Nach einer Stunde macht sich die erste Erschöpfung bemerkbar, steigt die Herzfrequenz an.
Die Gruppe verlangsamt ihr Tempo erneut, stets bemüht, die anaerobe Schwelle nicht zu überschreiten. Plötzlich legt sich ein Lächeln auf die Gesichter. Am Wegesrand rasten die flotten Renner. Langsam und stetig überholt die Gruppe 300 Höhenmeter pro Stunde legt sie ohne Pausen zurück. Gerastet wird erst am Gipfel – nach einem ausgiebigen Stretching.
Welche Energie die neue Form des Wandern freisetzt, zeigte sich im Sommer bei der „24-Stunden-Wanderung“. Einen Tag und eine Nacht wanderten Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Senioren von der Fischerhütte in Pertisau zu Fuß durch das Karwendel- und Rofangebirge bis zur Erfurter Hütte. Pasillalm, Seekaralm, Obere Bergalm, Kögljoch, Kotalm und Dalfaza-Alm wurden erwandert, regelmäßige Pausen mit Stretching und Stärkung, aber ohne Schlaf eingelegt. Kaum müde, sondern sichtlich erholt, feierten die Gruppe das Ende der Mega-Wanderung mit einem ausgedehnten Frühschoppen.
Als „erste Vitalregion Tirols“ wollen die vier Orte an Tirols größtem See – Pertisau, Maurach, Achenkirch und Steinberg – mit Wellness und Wohlbefinden stressgeplagten Städter eine ganzheitliche Erholung für Körper, Geist und Seele bieten. Eingebettet zwischen Europas größtem Naturschutzgebiet – dem Naturpark Karwendel – und dem nur zehn Kilometer breiten Minigebirge Rofan, lockt der Achensee mit einem umfangreichen Angebot für den sportlichen Urlaub.
450 Kilometer Wanderwege zwischen 930 und 2.457 Meter Höhe gilt es zu entdecken. 50 der schönsten Routen stellt ein neuer Wanderführer vor. Mountainbiker führt seit diesem Sommer die durchgehend beschilderte „Tirol Vital Route“ auf 355 Kilometern durch die Bergwelt – gen Westen vorbei an Wetterstein und Zugspitze zum Tannheimer Tal, gen Osten entlang am Wilden Kaiser bis nach Kitzbühel.
Segler und Surfer schätzen den neun Kilometer langen Achensee als „Düse Tirols“. Taucher finden Wracks im kühlen, klaren Wasser. Das Posthotel Achenkirch besitzt das größte Lippizaner-Gestüt Europas. Mehr als 40 Pferde können für Ausritte entliehen werden – neben den edlen Arabern auch robuste Haflinger und Shetland-Ponys.
Aktiv erholen – dazu gehört auch Steinöl. In Pertisau zeigt ein revitalisiertes Schaubergwerk, wie das schwarze Rohöl um 1900 aus bituminösem Ölschiefer gewonnen wurde. Heute wird der Bächentaler Ölschiefer im Tagebau abgebaut und in Jenfeld zu all jenen Produkten veredelt, die sich nicht nur in den vier zertifizierten Wellness-Hotels am Achensee, sondern in jedem Tiroler Haushalt wiederfinden.
Durch seinen hohen Anteil an natürlich gebundenem Schwefel soll Steinöl eine heilende Wirkung auf Haut, Gelenke und Muskeln haben. Das probate Hausmittel kann auf eine illustre Patientenliste zurück blicken: Schon Königin Magdalena von Ungarn (1571), Herzog Maximilian von Bayern (1619) und Herzog Leopold aus Innsbruck genossen die gesundheitsfördernden Bäder und Massagen mit Steinöl.
Diese Beitrag ist am 21. September 2001 auf Spiegel Online erschienen sowie, aktualisiert, am 12. November 2005 in der Stuttgarter Zeitung.