Tschüs, Hektik und Alltag. Raus aus der Stadt heißt in Hongkong: rauf auf die Fähre. 260 Inselträume und das Welterbe Macau locken im Archipel. Mit Pfahlbauten und Glitzerwelten, Glücksspiel und Festivals, Aussichtsgipfeln und Strandperlen.
Es ist eine andere Welt. Mit jedem Wellenschlag weicht die Hektik, schrumpft die glitzernde Skyline von Kowloon und Central zum Postkartenmotiv, entschwinden die Hochhausschluchten von Hongkong im Dunst. Auf den Outlying Islands im Südchinesischen Meer zeigt die Megacity ihr anderes, unbekannteres Gesicht: dörflich, grün, fast autofrei. Ein wenig der Zeit entrückt und voller Genuss. Ein Archipel aus 260 Eilanden mit grünen Bergen, einsamen Buchten und weiten Stränden, über die wilde Büffel zwischen den Sonnenanbetern umher trotten.
Zu den entlegensten und einsamsten Eilanden schippern „kaido“, kleine Wassertaxis. Die drei Hauptinseln Lantau, Lamma und Cheung Chau laufen von früh bis spät Großfähren an, auf denen sich morgens und abends die Pendler drängen.
Schwebend zum Big Buddha
Wer das andere Hongkong entdecken will, fängt am besten mit Lantau an, setzt sich an der MTR-Endstation Tung Cheung in die Ngong-Ping-360-Seilbahn und schwebt sechs Kilometer lang über lichten Bergwald und die einzigeTeeplantage der Insel zum größten sitzenden Buddha der Welt. 34 Meter hoch thront der 250-Tonnen-Koloss beim Po-Lin-Kloster auf einer Lotusblüte aus Beton und blickt, ganz untypisch, gen Norden nach Beijing.
Vielleicht, um die Machthaber im Auge zu behalten… waren doch 1924 Hunderte von Mönchen, Nonnen und Intellektuelle vor den Kommunisten auf die unzugängliche Insel geflüchtet, die die Briten damals als Lebrastation nutzten. Und Piraten 800 Jahre lang als Basis für den lukrativen Salzschmuggel. Die alten Salzpfannen sind heute fast völlig verschwunden, doch Tai O hat seinen Charme bewahrt. Im kleinen Hafen dümpeln alte Holzboote, über der Wasserkante schweben Stelzenhäuser. Mahjong-Steine klacken, Hunde dösen im Sonnenlicht.
Eine Waffelkugel in der Hand, pilgern Ausflügler zum Yeung Hau-Tempel (1699), wo sie eine Räucherkerze entzünden, die Götter um Beistand bitten und an den Griffen der Bronzeschale reiben. Beginnt das Wasser zu schwingen, wird es ein guter Tag… Böse Geister kommen nicht in den Tempel hinein. Dafür sorgen hintereinander versetzte Eingangstüren. Denn die Chinesen sind überzeugt: Körperlose Wesen können nicht auf plötzliche Veränderungen reagieren. So rennen sie frontal gegen die Wand.
Viel früher als die Touristen sind die Dorfbewohner auf den Beinen. In der Morgendämmerung laufen sie zum Markt und begutachten in Plastikbassins den Fang der Nacht. Gekauft wird nur, was zappelt oder zuckt – sonst ist es nicht frisch genug. Der Duft von Trockenfisch erfüllt die Luft. Besonders intensiv riecht es bei Seven Chung. Er fermentiert auf seinem Flachdach frisch eingesalzene Garnelen, bis sie einen dicken, Brei bilden, den er getrocknet und in Scheiben geschnitten für wenig Geld verkauft. Die Schwimmblasen, die wenig weiter von der Decke baumeln, sind indes eine teure Delikatesse, das Kilo für 1.800 Euro.
Im Süden von Lantau verstecken sich die längsten Sandstrände der Sonderverwaltungszone Hongkong – Bade- und Angelparadiese wie Cheung Sha oder Tonk Fuk, ein wilder, Strand. Seinen Spülsaum schmücken bizarr geformte, schwarze Steine, über denen tropenbunte Schmetterlinge flattern. 260 Arten gibt es auf Lantau – Weltrekord!
Bohème-Flair am Sonnenstrand
Östlich von Lantau liegt Lamma, die Insel der Expats, jungen Leute und Künstler wie Chow Yun Fat, der unter Regisseuren wie John Woo und Ringo Lam ab 1986 zum Superstar des Hongkong-Kino aufstieg und neben Jodie Foster in “Anna und der König” brillierte. Niedrige Mieten in Häusern, die höchstens drei Stockwerke in den Himmel ragen dürfen, und der relaxte Lifestyle lockten sie auf die 13,55 km² große Insel, zu der die Fähre in 30 Minuten hinüber fährt und im Norden am Pier von Yung Shue Wan festmacht.
Zumindest kulinarisch geht es am Anleger ganz und gar kosmopolitisch zu. Zwischen den Seafood-Restaurants entlang der Kaikante verstecken sich zwei vegetarische Cafés, ein thailändischer Take-Away, ein Dönerladen, Käsegeschäfte und Weinhändler. Wer die Insel entdecken will, steht vor der Frage: zu Fuß oder per Fahrrad? Auf dem Inselpfad über den Bergrücken hin nach Sok Kwu Wan, immer die drei Schlote eines Kraftwerks im Rücken? Oder in 20 Minuten vom Hafen hin zum Hung Shing Yeh-Strand und den Grill angeworfen?
Oder sollte man sich lieber in die Schlange vor dem Kin Hing Doufu Hua einreihen, einem Verschlag mit Kühlschrank und einigen Stühlen? Für Hongkongs Restaurantführer „Open Rice“ ist der offene Imbiss die mit Abstand beste Adresse für das Tofublüten-Dessert doufa hua. Heiß oder kalt serviert, entpuppt es sich als glitschiger Soja-Quark, der mit Ingwer-Sirup oder unraffiniertem Rohrzucker genossen wird…Vielleicht noch etwas schöner als der bekannte Hung Shing Yeh-Strand ist der sich südlich anschließende Lo So Shing Beach.
Glücksbringende Brötchen
Im Kanal zwischen Lantau und Lamma versteckt sich eine „lange Insel“, die, anders als ihr Name vermuten lässt, klein und kurz ist: Cheung Chau – eine zwei Kilometer lange Strandperle mit perfektem Wind für Surfer. Auch Lee Lai-shan trainierte dort am Kwun Yam Beach. 1999 holte sie die bislang einzige Goldmedaille für Hongkong und machte damit die Insel zum In-Ziel für junge Hongkong-Chinesen, mit der Express-Fähre vom Central Pier in 50 Minuten übersetzen, die Seafood-Restaurants an der Mole bevölkern, am Tung Wan Beach mit Blick auf Lamma baden, flirten und zum Pak Tai-Tempel pilgern.
>Die Meeresgöttin, in einem reich bestickten schwarzen Seidenmantel auf einem hölzernen Podest thront, soll im 18. Jahrhundert die Insel von der Pest befreit haben. Am achten Tag des vierten Mondes lockt im Mai der Tempel Zehntausende mit einem kulinarischen Spektakel zu Ehren der Göttin an, das Tag für Tag ab 14 Uhr aus dem Dampfgarer des nahen Kwok Kam Kee Cake Shop kommt: das Ping On Bao, chinaweit berühmt als Garant für Wohlstand und Glück. Traditionell befüllt mit Lotussamen, roten Bohnen oder Sesampaste, stapeln Tempeldiener Hunderte dieser Brötchen dicht an dicht auf drei 18 Meter hohe Türme.
1978 kollabierten die Brötchentürme aus Bambus und begruben 100 Menschen unter sich. Erst 2005 wurde auf Druck der Bevölkerung das Festival wieder belebt. Jetzt dürfen nur noch zwölf Athleten in Windeseile zur Spitze klettern, hin zum obersten “bun”. Wer es ergattert, soll viel Glück im Jahreslauf erleben… Das traditionelle Bun Snatching markiert den Höhepunkt des jährlichen Bun Festival, bei dem die Insel eine Woche lang sich ganz vegetarisch gibt. Selbst der örtliche McDonalds hält sich daran. Sieben Tage lang brät er für seine Burger kein Beef, sondern befüllt sie mit Pilz-Frikadellen.
Lantau, Lamma und Cheung Chau sind Pflichtstopps beim Inselhopping. Die Kür kennen die Kapitäne der Kaidos. Erst langsam entdecken die Einheimische den Reiz von vergessenen Inseln, die die Industrie aufgegeben hat. Und all jener Eilande, die die jungen Generationen im Sog der City und der besseren Lebensbedingungen in den neuen Städten der New Territorities verlassen haben.
So wiePeng Chau, wo einst elf Brennereien aus Austern- und Muschelschalen Kalk gewannen und Chinas größte Streichholzfabrik Zündhölzer fertigte, bis Feuerzeuge sie überflüssig machten. Oder die Felsinsel Po Toi mit ihrem Geisterhaus im Dschungel, das die Kaufmannsfamilie Mo fluchtartig verlassen hat. Noch einsamer ist Tap Mun Chau, wo Hongkongs letzter Gouverneur Chris Patten in den Fischrestaurants tafelte. Warum nicht in den Sternelokalen der Megacity? “Auf den Outlying Islands hat Hongkong seine Wurzeln bewahrt”, war auch er überzeugt.