Die legendären Kreidefelsen kennt fast jeder – doch die vielen anderen Schönheiten der südöstlichsten Insel Dänemarks sind nahezu unbekannt: Die Ostseeinsel Møn, auf der Günter Grass seinen „Butt“ schrieb, überrascht mit mancher Entdeckung.
Im Mai leuchten Rapsfelder knallgelb vor der blau glitzernden Ostsee. Im Juli blühen Stockrosen in den Vorgärten der Fachwerkhäuser. Im September liegen Strohballen auf den abgeernteten Feldern, knorrige Obstbäume versüßen mit saftig-frischen Pflaumen, Mirabellen oder Äpfeln das Wandern oder Radfahren. Im Winter überzieht ein weißer Flaum die Ostseeinsel, die sich im flachen Westen mit zwei Brücken an die Schnellstraße nach Kopenhagen andockt.
Im Osten schwingt sich das Land steil zu Møns Klint auf, dessen Kreideklippen auf acht Kilometern strahlend weiß in die schiefergraue Ostsee abfallen. „Morgens, wenn die Klippen im Licht der aufgehenden Sonne leuchten, sind sie am schönsten“, sagt Henning Hansen (65). Seit sechs Jahren schippert der Kapitän der MS Discovery von April bis Oktober zwei Stunden lang die Kreideküste entlang.
An Bord des Segelkutters sind Urlauber und Angler, die ihre Köder nach Dorsch, Butt, Seeaal und Makrele auswerfen. Hölzerne Treppen mit mehr als 500 Stufen führen vom steinigen Strand hinauf zum Buchenwald, der selbst im Herbst hellgrün leuchtet. Im Unterholz blühen Knabenkraut und wilde Orchideen – fast alle 20 Arten sind selten, manche gar vom Aussterben bedroht.
Gen Norden endet die Kreideküste an Liselund. Inselvogt Antoine de Bosc de la Calmette ließ den romantischen Schlosspark ab 1793 als Liebeserklärung an seine Frau Lisa anlegen – inspiriert von Rousseaus Ideal „zurück zur Natur“. Seitdem ist viel Parkland ins Meer gerutscht – 1905 an einem Tag allein vier Hektar.
Erhalten sind jedoch das kleine Empireschlösschen Gamle Slot, die norwegische Almhütte, der chinesische Teepavillon und das Schweizerhaus, in dem der dänische Dichter H. C. Andersen sein Märchen vom Mädchen mit den Zündhölzern schrieb. Durch die Bäume schimmert das Ny Slot, ein romantisches Schlosshotel mit vorzüglicher Küche.
Schnurgerade strebt der Klintevej, die Hauptverkehrsachse der Insel, von den Klippen dem nächsten kulturhistorischen Kleinod zu: Elmelunde Kirke, Møns älteste Landkirche. 1885 wurden bei der Restaurierung des weiß gekalkten Gotteshauses per Zufall jene farbenprächtigen Fresken im Innern entdeckt, die dem unbekannten Maler den Namen „Elmelunde-Meister“ gaben. Seine naiven Kalkmalereien, die auch die Kirchen von Keldby und Fanefjord schmücken, interpretieren den Bauernalltag des Mittelalters als biblische Handlung.
Der Weg zum „Urwald“ von Ulvshale hinter den Badestränden der Nordküste führt durch eine typisch dänische Landschaft. Inmitten weiter Felder mit Weizen, Mais und Zuckerrüben ducken sich kleine Gehöfte hinter Pappelreihen. Einzig auf dem Mini-Eiland Nyord, über einen einspurigen Damm erreichbar, wurden die Höfe im Zuge der Landreform nicht zu den Feldern verlegt.
So ist das kleine Fischerdorf im Inselinnern ein perfektes Beispiel, wie vor 200 Jahren alle dänischen Dörfer aussahen: Reetgedeckte Katen ducken sich hinter hohen Apfelbäumen. Am Fahnenmast flattert rot-weiß der Danebrog in der steten Brise. Hier und da steht ein Tisch am Straßenrand mit abgepackten Äpfeln, selbstgemachtem Honig oder aussortiertem Nippes neben einer Kaffeetasse als Kasse.
In der Wohnstube von Lolles Gaard dampfen Salzkartoffeln und „Stegt Aal“, gebratener Aal, auf Tellern mit Zwiebelmuster. Gänse schnattern im Garten und schauen neugierig durch die geöffneten Fenster. Hinter dem Nostalgie-Dorf rasten Kiebitze und Krickenten, Uferschnepfen und Rauchschwalben, Austernfischer und Fischreiher auf den Strandwiesen, die auf 135 Hektar unter Naturschutz stehen.
Zurück auf Mön erheben sich Landzeichen der Vorzeit aus den Äckern. 308 Hünengräber sind auf der Insel erhalten; drei Gräber für Besucher geöffnet. Das neolithische Kong Asgers Høj, eines der größten Ganggräber Dänemarks, thront auf einem Hügel mit weitem Blick über den Ulvsund.
Am Fanefjord umgeben 145 dicht stehende, mannshohe Randsteine das 100 Meter lange Grønsalen-Grab. Die 2.500 Jahre alten Fundstücke aus dem Doppelganggrab Klekkende Høj sind im Dänischen Nationalmuseum von Kopenhagen zu sehen.
Langsam legt sich die Dämmerung über das Land. Silbern funkelt die See, goldgelb leuchten die Felder. Fischer und Freizeitkapitäne kehren in den Hafen von Stege zurück. Wuchtig thront der rot-weiß gestreifte Backsteinturm der mächtigen St. Hans-Kirche über der Handelsstadt am Stege Noor.
Ihre Blütezeit erlebte die Kleinstadt im Mittelalter, als der Heringsmarkt florierte – heute weist ein Hering beim Stadtrundgang den Weg zu alten Handelshöfen, dem Møn-Museum und dem alten Stadttor Mølleporten. Ruhe zieht in die Gassen ein. Einzig bei Slagter Stig herrscht Hochbetrieb.
Mit seiner „Støberiet“ kreierte der einzige Schlachter der Stadt mit einem Antiquitätenhändler ein einmaliges kulinarisches Erlebnis: An der Fleischertheke werden Känguru, Krokodil, Hirsch, Lamm, Ente oder Rind ausgewählt und von den Mitarbeitern frisch gebrutzelt, während sich der Gast am Büffet bedient und Getränke ordert.
Geschlemmt wird im Innenhof, umgeben von Spinnrad, Steingut und anderen Antiquitäten des Nachbarn. Am späten Abend erhellen nur noch Kerzen die Tische. Doch wer durch das Glasdach in den nachtschwarzen Himmel schaut, blickt auf das fahle Licht des Mondes.
Dieser Beitrag wurde am 24. Juni 2005 vom gms-Themendienst der dpa versandt und von zahlreichen deutschsprachigen Medien veröffentlicht.
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Ein Gedanke zu „Møn: Kleinod für Entdecker“