Die eisigen Ecken der Welt sind das Ziel des neuen Hurtigruten-Schiffes MS Fram. Die erste Reise führt das Passagierschiff mit der Eisklasse 1 B nach Grönland. Mit an Bord waren 146 Passagiere – und ein Kind.
Lara hockt auf der Fensterbank. Sie müsste todmüde sein, war drei Stunden nach Reykjavik geflogen, eine Stunde lang vom Flughafen in Keflavik zum alten Hafen von Reykjavik gefahren, hatte Tourinfos und Sicherheitstraining miterlebt und war doch nach zwei Stunden Zeitverschiebung immer noch topfit.
Als abends in der Kabine die Mitternachtssonne mit dem Rollo ausgesperrt werden soll, protestiert sie, klettert auf den schmalen Fenstersims, schaut auf die endlose Weite des Nordatlantiks und murmelt: „Das Meer ist so schön“. Sekunden später schläft sie, den Kopf gegen die Gardine gelehnt, ihren Schlafhund im Schoß.
In der Panoramalounge Qilak auf Deck sieben sind indes alle der gemütlichen Ohrensessel mit Fußhocker belegt. Auch hier sind einige Passagiere eingenickt, Fernglas und Kamera auf dem Schoß. Andere studieren ihr Infopaket mit News zum Schiff und zur Strecke.
Der Neubau „MS Fram“ erinnert mit seinem Namen an das Schiff des norwegischen Entdeckers Fridtjof Nansen, der vor 1893 versuchte hatte, durch eine von ihm vermutete Meeresströmung von Sibirien aus als erster Mensch den Nordpol zu erreichen.
Die „Fram“ war zur damaligen Zeit das stärkste Holzschiff der Welt. Die heutige „Fram“ ist mit 114 Metern Länge und 20 Metern Breite deutlich größer und komfortabler als ihre Vorgängerin aus Holz. Sie wurde auf der italienischen Werft Fincantieri in Triest gebaut und in gedeckten Blau- und Sandtönen passend zu den Fahrtgebieten eingerichtet. Werke grönländischer und norwegischer Künstler interpretieren in den Räumen, im Restaurant und an der Rezeption die Themen Eis und Schnee.
Nachts wird leise das Programm für den kommenden Tag unter der Kabinentür durchgeschoben. Ein Seetag. Die Vorträge zur Glazialgeschichte Grönlands interessieren Lara nur mäßig. Nach den ersten Eisbergdias – „die kenn ich schon aus dem Buch“ – will sie baden. Erst leise, dann immer lauter, verleiht sie ihrer Forderung Nachdruck. „Mama, jetzt sofort. Oder ich bin nicht mehr Deine Freundin!“
Ihren Bordausweis um den Hals, marschiert sie los, wirft Kleidung, Keycard und Handtuch auf die Holzplanken und springt juchzend in den 37° C warmen Whirlpool. Dicke graue Wolken ballen sich am Himmel, leichter Niesel regnet hinab, und stetig pflügt MS Fram mit zwölf Knoten ihren Weg durch die gefürchtete Dänemarkstraße, die sich meist stürmisch, heute jedoch mit mäßiger Dünung präsentiert.
In der Hand hält Lara eine Puppe. „Mami, guck mal, Barbie ist jetzt Arielle!“ Immer wieder tauchen die beiden Badenixen zu den Blubberblasen am Boden. Kaum abgetrocknet, sind Lara und die Puppe fort. Spurlos verschwunden.
Weder auf Deck 4, wo im Bordbistro heiße Schokolade in Hurtigruten-Thermobecher abgefüllt werden kann, noch auf Deck 7, wo mit starken Fernrohren die Welt des Eismeers nah heran gezoomt werden kann, ist die Lütte zu finden. In der Kabine – Fehlanzeige. Im Fitnessraum – auch nicht. Auf der Brücke und unteren Decks: auch kein Kind. Plötzlich, ganz leise, von oben.
„Mama“, ich bin ich“. Mit Fernglas bepackt, steht sie auf einem Liegestuhl, hängt halb über der Reling und blickt fasziniert auf eine Eisscholle. Dahinter ragt ein schwarzes Dreieck aus den Fluten: „Mama, ein echter Wal! Und Robben haben wir auch schon gesehen!“
Zum Frühstück und Mittag gibt es ein Büffet im Restaurant Imaq auf Deck vier. Doch am Abend… Völlig irritiert blickt Lara auf die leere Fläche in der Mitte des Speisesaals. Kein Salat, keine Suppe, kein Fisch oder Fleisch, KEIN EIS! Stattdessen: ein Sitzplatz mit viel zu viel Besteck und lauter Leuten, die ganz andere Sachen anhaben als sonst.
Die Serviererin schenkt Wasser ein, bringt ein Brötchen, kommt kurz darauf mit einem Glasteller zurück, auf dem sich eine Hirschpastete mit einem Pilz-Walnuss-Chutney flirtet. Käsesuppe, Dorschfilet und Crème Brûlée folgen. Vorsichtig probiert die Fünfjährige jeden Gang. Doch dann erblickt sie ihren Lieblingskellner. Schnell huscht sie zu ihm hin, blickt ihn tief aus ihren blau-grünen Augen an und sagt: „No dinner, ice cream, please!“
Am nächsten Tag ist Landgang. Von Bord geht es nicht an die Pier, sondern in die Boote. „Wir tendern“, erklärt Expeditionsleiterin Stine Dudda (32). Mit je acht Passagieren sausen die philippinischen Fahrer um die kleinen, skurril geformten Eisberge, die sich unter der Wasserlinie als wahre Kolosse entpuppen.
Kleine, kurze Wellen schlagen gegen die dicke Bordwand aus Gummi. Manchmal spritzt Gischt auf. Dann hält Hurtigruten-Lektor Stefan die Hand in den Fjord, fischt einen Eisblock heraus. „Probieren Sie mal!“
Nach der äußeren, salzigen Schicht schmeckt der glasklare Brocken plötzlich wie bestes Bergwasser. „Das ist ein Stück vom Inlandeis, das vom Gletscher ins Meer gebrochen ist“. Grönland, mit 2,1 Millionen Quadratmetern die größte Insel der Welt, ist hinter seiner gebirgigen Küstenlinie eine riesige Schüssel unter dem Meeresniveau, angefüllt mit bis zu drei Kilometer dickem Eis – taut es, lassen die drei Millionen Kubikliter Süßwasser den Meeresspiegel weltweit um sechs Meter steigen.
Da der Wind und die Wellen erneute einen 60 Seemeilen breiten Packeis-Gürtel vor die Ostküste geschaffen, geht es erst an der milderen Westküste erstmals an Land. Erstes Ziel ist die einsam gelegene Kirchenruine Hvalsø, die als besterhaltenes Zeugnis der altnordischen Wikingerkultur in Grönland gilt.
Die Kirche und das Haus des Priesters samt Stallung und Festsaal wurden um 1300 n.Chr. erbaut. 1408 wurde hier die letzte überlieferte Trauung vollzogen. Danach verschwindet das Schicksal der legendären Nordmänner im Dunkeln. Begonnen hatte ihre Geschichte auf Grönland mit Erik dem Roten, der vom Thing in Island verbannt worden und aufs offene Meer hinaus gefahren war, um neues Land zu entdecken. Nach einigen Tagen erreichte er ein „grünes Land“ und segelte dort in einen kleinen Fjord, den er Eriksfjord nannte.
Dort überwinterte er zunächst auf einer kleinen Insel, fuhr dann jedoch – unter Missachtung des Thing-Verbotes – nach Island zurück und bewegte rund 1000 Menschen, mit ihm nach Grönland zu ziehen. Eriks Mannen bauten sich dort Langhäuser mit bis zu 1,5 m breiten Torfwänden und fingen Fische. Bald folgten weitere Neusiedler. Einer von ihnen brachte 1002 eine Epidemie in das Dorf. Auch Erik der Rote erkrankte und verstarb 1003.
Auf seinem Hof Brattahlíð in der Nähe von Narsarsuaq wurden die Grundmauern der ersten christlichen Kirche in Grönland freigelegt, die auf Bestreben seiner Frau Þjóðhildur erbaut worden sein soll. Die Kolonie der „Grönländer“ konnte sich jedoch von der Epidemie erholen und bestand bis ins frühe 15. Jahrhundert.
Heutige „Grönländer“ – 87 Prozent sind von ihnen sind Inuit, die anderen meist Dänen – sieht Lara erstmals in Narsaq, einer weitläufigen Ansammlung roter, blauer, gelber, grüner und grauer Holzhütten zu Füßen des 685 m hohen Qaqqarsuag. Børge Brodersen hat hier – und am Kvanefjeld – seltene Mineralien und Schmucksteine gesammelt. Besonders der Tuttupit hat es Lara angetan.
Der pinkfarbene Schmuckstein kommt nur hier – und auf der russischen Kola-Halbinsel vor. Seit letztem Jahr gibt es auch eine Brauerei in Narsaq. Im „Greenland Brewhouse“ werden aus Gletscherwasser süffige Ales gebraut – und ausschließlich nach Dänemark exportiert: In Grönland gibt es dafür das Hausbier keine Schanklizenz.
In der benachbarten Nähstube von Eskimopels nähen zwei Frauen Handschuhe, Jacken, Mützen und Hauspuschen aus Robbenfell. In einer Vitrine stehen 20 cm hohe Schnitzwerke aus Walrosszahn mit furchterregenden Grimassen: Tupilaks – magische Geisterwesen, die es auf Grönland bereits seit mehr als 4.000 Jahren gibt.
Der älteste Springbrunnen Grönlands ist dagegen erst 80 Jahre alt. Seit 1927 bildet er das Herz des alten Zentrums von Qaqortoq, mit 3.400 Einwohnern heute die größte Stadt Südgrönlands. Gymnasium, Handels- und Volksschule machen das einstige Julianehåb zum Ausbildungszentrum; Arbeitsplätze bieten neben der Verwaltung eine Werft und die einzige Gerberei Grönlands, die Great Greenland Gaveri, die zeigt, dass Pelz auch modisch sein kann.
Im gesamten Stadtgebiete erinnern Reliefs und Skulpturen an das 1993/1994 von der ortsansässigen Künstlerin Aka Høegh initiierte Projektes „Sten og Menneske“. 18 Künstler der nordischen Länder hatten damals für „Stein und Mensch“ die das Stadtbild prägenden Granitwände bearbeitet und frei stehende Kunstwerke aus dem harten Stein geschaffen.
Frei, ohne Zaun oder Gatter von den Menschen getrennt, sind auch die Moschusochsen, die über die Hänge von Ivituut ziehen. Die einstige Minenarbeitersiedlung – bis 1987 wurde hier Kryolith zur Aluminiumherstellung gefördert – ist heute aufgegeben, eine malerische Geisterstadt mit Museum. Einzelne Eisberge treiben auf dem Fjord, von den Berghängen fallen hohe, schmale Wasserfälle, Firnfeldern glänzen in der Sonne.
Beim Frühstück am nächsten Morgen hat Kapitän Trond Holten (47) MS Fram bereits am Containerhafen von Nuuk vertäut. Die kleinste Hauptstadt der Welt ist mit 15.000 Einwohnern Grönlands größte Stadt – und die älteste der Insel. Voller guter Hoffnung hatte der dänisch-norwegische Pfarrer Hans Egede am 29. August 1728 die Handelsstation „Godthåb“ gegründet – und damit die dänische Kolonisation Grönlands eingeleitet.
Jetzt bläst ein eisiger Wind um die Statue des Missionars, die auf einem Granithügel über dem Kolonihavnen thront. Im Windschatten erhebt sich Grönlands Dom, das Ufer der Bucht säumen die Bauten des Nationalmuseums. Wenige Schritte weiter hat hinter einem riesigen Weihnachtsbaum aus Holz der Weihnachtsmann seine Poststation.
Zum heftig kritisierten Wahrzeichen des modernen Nuuk wurden zehn weiße Wohnblöcken, die auf den Klippen oberhalb des Hafens errichtet wurden. Im Zuge der Zentralisierungspolitik der 1960/70er Jahre wurden hier pro Riegel 500 Menschen zusammengepfercht, die zuvor ihrer traditionellen Lebensweise nachgegangen waren.
Die Folge: Gewalt und Alkoholsucht. Inzwischen jedoch hat ein Umdenken eingesetzt, und entstehen in den Tälern rund ums Zentrum heute kleinere, offene und auch architektonisch ansprechendere Wohnanlagen. Geradezu Aufsehen erregend für Grönland sind zwei Bauten der letzten Jahre: das Kulturzentrum Katuaq und die erste Schwimmhalle Grönlands, Malik.
Am nächsten Nachmittag erreicht MS Fram den Polarkreis. Eine Durchsage ruft alle Passagiere zum Achterdeck. Hier wartet Neptun, der König der Meer. Mit fester Hand greift er nach Lara. Bleich vor Schreck, lässt sich das Mädchen taufen – Eiswasser tröpfelt aus den blonden Haaren.
Bei den erwachsenen Gästen zeigt sich der Gott des Meeres weniger rücksichtsvoll: Mal gibt es eine Kelle Eiswasser in den Nacken, mal purzeln die Eiswürfel das Bein hinab. Lautes Lachen – und ein Kamerakonzert an Klicks und Klacks – erfüllt die Luft bis zum Abend. Dann bittet Kapitän zum Abschiedsdinner. Und Lara hat wieder leuchtende Augen, als die Crew zum Abschluss ein furioses Feuerwerk präsentiert: Eisbomben mit Glitzerraketen.
Dieser Beitrag ist 2007 erschienen im Online-Reisemagazin Schwarzaufweiss.de.
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